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Léon und Louise: Roman (German Edition)

Léon und Louise: Roman (German Edition)

Titel: Léon und Louise: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Louise
     
    P.S.: Sechs Stunden später: Es ist 4.20 Uhr morgens, nach einer langen Nacht der Bleistiftstriche sind sämtliche Kisten an Bord. Tausendzweihundertacht Stück, Netto-, Brutto- und Taragewicht wegen schierer Größe in der Eile nicht messbar und deshalb unbekannt. Die Maschine steht seit zwei Stunden unter Dampf, der Postbote lehnt an der Gangway und trommelt mit den Fingern aufs Geländer. Im Osten wird es schon hell, oder täusche ich mich? Ich muss meinen Brief endgültig beschließen, jetzt gleich, sofort, sonst gelangt er nicht zu Dir. Hinein in den Umschlag, ablecken und zukleben. Adieu, Geliebter, adieu!

14. KAPITEL
     
    Ein paar Tage nach dem Einmarsch verebbte die Selbstmordwelle, in Paris kehrte Ruhe ein. Die deutschen Soldaten machten sich aber nicht unsichtbar, wie Léon vermutet hatte, sondern breiteten sich im Gegenteil überall aus; in den Parks und auf den Straßen, in der Métro und in den Cafés und in den Museen und vor allem in den Kaufhäusern, Bijouterien, Kunstgalerien und Krämerläden, wo sie mit ihrem Sold, der dank des neuen Wechselkurses um ein Vielfaches im Wert gestiegen war, alles aufkauften, was für Geld zu haben und nicht niet- und nagelfest war.
    In jenen Tagen schien es, als hätte mit den Deutschen in Paris ein fast normaler Alltag Einzug gehalten. Die Wehrmacht gab Platzkonzerte im Bois de Boulogne und verteilte hinter der Bastille Brot an die Bedürftigen, sie besorgte die Straßenreinigung und bildete, weil sämtliche Angestellten der Stadtgärtnerei geflohen waren, Arbeitskolonnen für die Pflege der Blumenrabatten in den Tuilerien. Die nächtliche Ausgangssperre unterschied sich, da ihr Beginn von einundzwanzig auf dreiundzwanzig Uhr verschoben wurde, kaum mehr vom Verdunkelungsbefehl, den noch die souveräne französische Regierung erlassen hatte; und wenn mal ein Nachtvogel es nicht rechtzeitig nach Hause schaffte, hatte er nichts Schlimmeres zu befürchten als ein paar Stunden Stiefelwichsen oder Knöpfeannähen auf der Feldgendarmerie bis zum Morgengrauen.
    Ende Juni öffneten die Pariser Kinos wieder ihre Tore und erschienen auch wieder Zeitungen, die in Titel und Aufmachung den Pariser Zeitungen der Vorkriegszeit erstaunlich ähnlich sahen; im Moulin Rouge wurde wieder getanzt. Die Wirte, Schneider und Taxifahrer machten schöne Geschäfte, und nachts warteten zwischen der Place Blanche und der Place Pigalle mehr Frauen denn je auf vorwiegend feldgraue Kundschaft.
    Da die Apokalypse ausblieb, kehrten die Flüchtlinge in die unversehrte Stadt zurück, erst zögerlich und vereinzelt nur und peinlich berührt über die augenscheinliche Nutzlosigkeit ihrer überstürzten Flucht, dann aber in hellen Scharen; Mitte Juli lebten in Paris schon wieder doppelt so viele Menschen wie einen Monat zuvor. Als Erste kehrten die Kaufleute zurück, die ihre Geschäfte nicht länger ruhen lassen konnten, dann die Handwerker und die kleinen Büroangestellten, die von ihren Chefs zurückgerufen wurden, und die Juden, die sich zur Hoffnung zwangen, dass doch alles nicht gar so schlimm kommen werde, gefolgt von den Journalisten und Künstlern und Theaterschauspielern, die im Anbruch neuer Zeiten ihre Chance witterten. Gegen Ende des Sommers waren auch die Pensionisten wieder da, die es zurück zu ihrem Ohrensessel, ihrem Hausarzt und ihrer Sitzbank im Park um die Ecke drängte, und schließlich die Kinder, für die Anfang September die längsten Sommerferien ihres Lebens zu Ende gingen.
     
    Léon duckte sich und lebte weiter, so gut es eben ging. Die neuen Zeitungen wie den Petit Parisien , L’Œuvre oder Je suis partout las er nicht, weil sie zwar französisch geschrieben, aber deutsch gedacht waren, und er ging auch nicht ins Kino, sondern verbrachte seine Abende am Radiogerät. Er hörte Marschall Pétains Ansprache im französischen Radio und General de Gaulles Entgegnung auf BBC France, und er hörte die Nachrichten der Schweizerischen Depeschenagentur über den Krieg in Russland, Nordafrika und Norwegen; er pinnte in der Küche eine Landkarte Europas an die Wand und markierte den Frontverlauf mit Stecknadeln, hob neun Zehntel seines Sparguthabens ab und kaufte auf dem Schwarzmarkt Goldbarren, die er im Salon unter dem Parkettboden versteckte, und vergeblich hoffte er Tag für Tag, dass ein Lebenszeichen von Louise eintreffe aus jenem Winkel der Welt, in den ihr karibikbunter Bananendampfer sie getragen haben mochte.
    Den ganzen Sommer über kam kein weiterer Brief von

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