Léon und Louise: Roman (German Edition)
ihr, und die Nachrichtensprecher verloren kein Wort über die Victor Schoelcher oder einen Goldtransport der Banque de France. Léon empfand es als Ironie des Schicksals, dass in jedem Weltkrieg, den er erlebte, dasselbe Mädchen vor seinen Augen spurlos verschwinden musste. Je länger aber die Ungewissheit dauerte, desto mehr zwang er sich, das Ausbleiben einer Nachricht als gutes Zeichen zu deuten.
Im August fiel ihm auf, dass die Platanen früher als gewöhnlich ihre Blätter verloren. Es war ein heißer Sommer gewesen, jetzt kam ein früher Herbst.
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Historische Tatsache ist, dass der Victor Schoelcher an jenem Morgen des 17. Juni 1940 buchstäblich in letzter Minute die Flucht gelang. Es gibt Augenzeugenberichte, wonach das erste Vorauskommando der Wehrmacht, das in Lorient eintraf, die Rauchfahne des Schiffes hinter der Hafenausfahrt noch sehen konnte. Auf offener See angelangt, vereinigte sich die Schoelcher mit drei zu Goldtransportern umfunktionierten Personendampfern der Linie Marseille–Algier und nahm Kurs auf Casablanca; von dort sollte die Fahrt weitergehen nach Kanada, wo das französische, belgische und polnische Gold bis Kriegsende in den Tresoren Ottawas hätte verwahrt werden sollen.
Die vier Schiffe hatten aber kaum den Golf von Biskaya passiert, als per Funk die Nachricht von der Kapitulation Frankreichs eintraf. In der Folge stellte sich die Frage, wem von Rechts wegen die Verfügungsgewalt über das Gold nun zustand – der Vichy-Regierung und damit letztlich Nazideutschland, der französischen Exilregierung in London unter General de Gaulles oder etwa weiterhin der Banque de France, die zwar dem Finanzministerium unterstand, als privatrechtliches Institut aber nicht Eigentum des französischen Staates war.
So geschah es, dass die deutsche Admiralität noch am Tag der Kapitulation den Goldtransportern per Funk mit einem Torpedoangriff drohte für den Fall, dass sie nicht sofort den nächsten Hafen des besetzten Frankreichs anliefen. Nur Stunden später drohte auch General de Gaulles mit einem Torpedoangriff, falls sie nicht umgehend Kurs auf London nähmen. Unter diesen Umständen war an eine Transatlantikfahrt nicht mehr zu denken, weshalb die Flotte ihren südlichen Kurs beibehielt und nach einem Zwischenhalt in Casablanca am 4. Juli 1940 in Dakar eintraf.
Dort war sie fürs Erste vor den deutschen Zerstörern sicher, aber eine britische Flotte unter dem Kommando General de Gaulles bedrohte die Küste Senegals in der erklärten Absicht, Westafrika im Namen des unabhängigen Frankreichs in Besitz zu nehmen. Deshalb beschlossen die Beamten der Banque de France in aller Eile, die ihnen anvertrauten zwei- bis dreitausend Tonnen Gold – wie viel es genau war, hat niemand je erfahren – in Güterwaggons verladen zu lassen und auf der Linie Dakar–Bamako so tief als möglich ins Innere des Kontinents zu transportieren.
Um sechzehn Uhr war die gesamte Ladung gelöscht, drei Tage später verließ der letzte Goldtransport den Bahnhof von Dakar. Bei einem ersten Inventar in Thiès stellte sich heraus, dass eine Kiste auf der Seereise dreizehn Kilogramm an Gewicht abgenommen hatte. Eine andere Kiste, die aus der Filiale Laval stammte, war mit Kieselsteinen und Alteisen gefüllt. Und zwei oder drei Kisten waren ganz verschwunden.
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Sonntags ging Léon mit Frau und Kindern spazieren, als ob nichts wäre; wenn aber eine Panzerbrigade über den Boulevard Saint-Michel paradierte, befahl er seinen Kindern, nicht zu gaffen, sondern sich umzudrehen und die Auslagen der Schaufenster zu betrachten.
»Nun gut, sie sind die Sieger, und sie benehmen sich soweit ganz anständig«, erklärte er seinem erstgeborenen Sohn Michel, der es in der Enge der Wohnung nicht mehr aushielt und ungeduldig darauf drängte, auf eigene Faust die besetzte Stadt zu erkunden. »Wenn einer dich anspricht, sagst du ihm Bonjour und Au Revoir, und wenn er dich nach dem Weg zum Eiffelturm fragt, gibst du ihm Auskunft. Aber du kannst kein Deutsch, denn was du am Gymnasium gelernt hast, hast du vergessen, und auch wenn der andere Französisch kann, verpflichtet dich das keineswegs, mit ihm übers Wetter zu plaudern. Wenn er dir seinen Vornamen buchstabieren will, hast du ein Recht auf ein schwaches Gehör und ein schlechtes Gedächtnis, und wenn er dich um Feuer bittet, reichst du ihm nicht dein Feuerzeug, sondern streckst ihm die Glut deiner Zigarette entgegen. Und niemals – niemals, hörst du? – ziehst
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