Léon und Louise: Roman (German Edition)
du vor einem Deutschen deine Mütze. Du tippst nur mit dem Zeigefinger an die Krempe.«
Léon selbst ging Tag für Tag gesenkten Hauptes zum Quai des Orfèvres und verrichtete gesenkten Hauptes seine Arbeit. Gerade viel zu tun hatte er nicht, denn in Paris gab es nun kaum mehr Vergiftungsfälle mit Todesfolge; es schien, als seien in den Tagen von Chaos und Massenpanik alle Mord- und Suizidpläne in die Tat umgesetzt worden, weshalb nun niemand mehr übrig war, den es mit Gift vom Leben in den Tod zu befördern galt.
Léon nutzte die freie Zeit, um einen lang gehegten Plan anzugehen und einen wissenschaftlichen Artikel von der Länge einer Lizentiatsarbeit oder einer kleineren Dissertation zu schreiben; denn seit einiger Zeit empfand er es als eine der Niederlagen seines Lebens, dass er keinen akademischen Titel errungen und noch nicht mal das Gymnasium abgeschlossen hatte.
Natürlich wäre es erstens unmöglich und zweitens lächerlich gewesen, jetzt noch nachzuholen, was er als junger Mann versäumt hatte; aber Zeugnis davon ablegen, dass er ein ernsthafter, zum Nachdenken bereiter Mensch war, wollte er schon. Als Thema für seine Arbeit hatte er eine statistische Auswertung der Pariser Giftmorde 1930–1940 ins Auge gefasst. Wenn es auf diesem Gebiet einen Fachmann gab, dann war er das. Umgekehrt war dieses Gebiet das einzige, von dem er wirklich etwas verstand.
Als Erstes stapelte er die Labortagebücher der letzten zehn Jahre auf seinen Schreibtisch und begann deren statistische Auswertung, erfasste Täter und Opfer nach Geschlecht, Alter und sozialem Status, ebenso den Verwandtschaftsgrad oder die Art der Bekanntschaft zwischen Täter und Opfer, die Art des verwendeten Giftes und die Methode seiner Verabreichung, weiter die geographische Streuung über die einundzwanzig Arrondissements der Stadt Paris und die saisonale Verteilung übers Jahr. Er würde Tabellen erstellen und Diagramme zeichnen, und er würde Täter- und Opferprofile skizzieren und seinen Aufsatz dem Journal des Sciences Naturelles de l’École Normale Supérieure schicken, und vielleicht würde er, wenn der Krieg vorbei war, ein paar Wochen lang als Gastdozent und Spezialist für Giftmorde durch die Polizeiakademien Frankreichs tingeln.
Zu Léons Überraschung verging der Frühsommer 1940 gleichförmig und ereignislos. Nur an den 23. Juni sollte er sich erinnern bis ans Ende seiner Tage – das war jener Sonntagmorgen, an dem rosa Schäfchenwolken am Himmel leuchteten und kurz nach acht in der Rue des Écoles, als Léon mit drei Baguettes unter dem Arm von der Bäckerei zurückkehrte, sich von hinten das satte, fette Brummen eines großzylindrigen Wagens näherte. Er wandte sich um und sah eine Mercedes-Limousine mit offenem Verdeck auf sich zukommen, in dem vier deutsche Militärs, zwei Zivilisten und Adolf Hitler saßen. Der Mann auf der Rückbank war eindeutig Adolf Hitler, jeder Irrtum war ausgeschlossen. Der Mercedes fuhr flott, aber ohne übertriebene Eile an ihm vorbei, gefolgt von drei kleineren Fahrzeugen, und natürlich nahmen weder Hitler noch seine Begleiter Notiz von meinem Großvater, der mit seinen drei Baguettes unter dem Arm auf dem Trottoir stand und fassungslos den Luftzug der Weltgeschichte an sich vorüberwehen ließ.
Wie man später in den Geschichtsbüchern nachlesen konnte, war der Führer nur drei Stunden zuvor in Begleitung seiner Architekten Albert Speer und Hermann Giesler sowie des Bildhauers Arno Breker zu seinem ersten und letzten Besuch in Paris auf dem Flugfeld von Le Bourget gelandet und hatte in aller Eile die Opéra, die Madeleine und die Place de la Concorde besucht, war über die Champs-Élysées zum Triumphbogen hinaufgefahren und durch die Avenue Foch zum Trocadéro und weiter zur École Militaire und zum Panthéon; als er an Léon vorbeifuhr, muss er schon wieder auf dem Rückweg zu seinem Flugzeug gewesen sein und sollte nur noch bei der Sacré-Cœur kurz anhalten, um einen letzten Blick zu werfen auf die unterworfene Stadt, die ahnungslos erwachend zu seinen Füßen lag.
Hätte Léon an jenem Morgen eine Pistole bei sich gehabt, dachte er später oft, und wäre die Pistole geladen und entsichert und er selbst in der Lage gewesen, diese einigermaßen zielsicher zu bedienen, und hätte er in diesem Augenblick die nötige Geistesgegenwart aufgebracht und keine Zeit vertrödelt mit ethisch-moralischen Erörterungen über christlich-abendländische Handlungsmaximen, so hätte er vielleicht
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