Léon und Louise: Roman (German Edition)
ihrer Hüte und Mäntel zur geforderten Doppelreihe, mit Händen greifbar schien ihr Unmut darüber, dass sie dieselbe Arbeit, die sie im Juni bereits erledigt hatten, in umgekehrter Abfolge noch einmal leisten sollten; für jeden Schritt, jeden Handgriff brauchten sie nun drei- oder viermal so lang, und so dauerte die Rückführung, obwohl nur noch halb so viele Akten da waren, nahezu doppelt so lange wie die Evakuation.
In Büro 205 setzten sich Polizeipräsident Langeron und der Mann mit dem gelben Mantel an den großen Schreibtisch, öffneten den einen oder anderen Karton und erkannten, dass das Aktenmaterial erheblichen Schaden genommen hatte. Im Schleppkahn hatten sich während seiner einmonatigen Abwesenheit Kanalratten, Käfer und Würmer eingenistet, durch die Ritzen des Rumpfs war Wasser eingedrungen. In der Feuchtigkeit der Sommergewitter war die Tinte zerflossen, das Papier aufgequollen, Holz und Karton waren aus dem Leim gegangen. Noch vor der Mittagspause fällten Langeron und der junge Deutsche den Entscheid, das gesamte Material, sämtliche drei Millionen Karteikarten und Aktenstücke, abschreiben und ordentlich ablegen zu lassen in neuen Karteikästen und Hängeregistraturen, welche das Informationsministerium binnen Wochenfrist liefern würde.
Nun ergab aber schon eine erste Kopfrechnung, dass die hundert Beamten aus Büro 205 diese Kopistenarbeit unmöglich allein binnen nützlicher Frist würden erledigen können, weil auf jeden von ihnen – nebst der Bewältigung der täglichen Neueingänge – rund dreißigtausend Kopien entfallen würden. Also wurden die Kollegen aller übrigen Abteilungen der Police Judiciaire angewiesen, sämtliche Arbeiten außer den dringendsten Pflichten zurückzustellen und prioritär beim Kopieren der Akten mitzuhelfen.
Für Léon Le Gall bedeutete dies, dass er seinen wissenschaftlichen Artikel fürs Erste beiseitelegen musste. Er versperrte seine Notizen und die Labortagebücher in einem Schrank und fand sich damit ab, dass seine berufliche Existenz sich auf absehbare Zeit um aufgequollene, gewellte rosa Karteikarten drehen würde.
Die Zeit verging rasch. Ehe Léon es sich versah, war er schon drei Wochen damit beschäftigt, slawische Namen zu entziffern und auf blütenweiße Karten zu übertragen, die er in brandneuen Karteikästen abzulegen hatte. Vichnevski, Wychnesky, Wysznevscki, Wichnefsky, Wijschnewscki, Vitchnevsky, Wishnefski, Vishnefskij, dazu Aaron, Abraham, Achmed, Alexander, Aleksander, Alexej, Alois, Anatol, Andrej, Andreji und Rue de Rennes, Rue des Capucins, Rue Saint-Denis, Rue Barbès sowie Jude, Jude, Jude, Jude, Jude, Kommunist, Kommunist, Kommunist, Kommunist, Kommunist, Freimaurer, Freimaurer, Freimaurer, Freimaurer, Zigeuner, Anarchist, abartig, amoralisch, arbeitsscheu, Alkoholiker, aggressiv, schizophren, mannstoll, rassisch unrein.
Léon ergab sich in diese Arbeit mit einer Abscheu, die er letztmals im Alter von sechzehn Jahren empfunden hatte, als er an schulfreien Nachmittagen zur Strafe seitenweise Vergil hatte abschreiben müssen, während am Strand von Cherbourg das Meer die interessantesten Dinge an Land spülte – mit dem Unterschied, dass die Strafarbeit sich diesmal zusätzlich anfühlte, als sei der Lehrer wahnsinnig geworden und halte ihm eine durchgeladene Pistole an die Schläfe.
Dabei waren die Deutschen, das musste Léon zugeben, im persönlichen Umgang von erlesener Höflichkeit. Jeden Abend kurz vor Dienstschluss machte der Mann mit dem senfgelben Mantel die Runde durch die Abteilungen der Police Judiciaire und sammelte die kopierten Akten ein wie ein Imker den Honig. Der Mann hieß Knochen. Helmut Knochen. Er grüßte freundlich und ging auf leisen Sohlen, und zu seinen Drohnen war er, wie es sich für einen guten Imker gehörte, von geradezu rührender Fürsorglichkeit. Beinahe täglich fragte er Léon in gepflegtem, wenn auch hartem Französisch nach dessen Befinden, schüttelte ihm die Hand und erkundigte sich, ob er ausreichend Kaffee habe und ob er nicht eine heller strahlende Tischlampe benötige, und dabei schaute er ihm arglos in die Augen mit seinen hellblauen, durch die Brillengläser stark vergrößerten Augen.
Léon bedankte sich murmelnd und sagte, dass er mit Kaffee und Tischlampe zufrieden sei. Er hatte noch ausreichend Erinnerungen an den Deutschunterricht, um die Poesie in Knochens Familiennamen würdigen zu können. Hingegen hatte er Schwierigkeiten, den Jüngling, der zwar SS-Hauptmann und Chef der
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