Léon und Louise: Roman (German Edition)
eine Tat von welthistorischer Bedeutung vollbracht. So aber stand er nur staunend da mit seinen Baguettes unter dem Arm, und die zwei oder drei Sekunden währende Begegnung hatte weder auf sein weiteres Leben noch auf jenes des Führers die geringste Auswirkung. Jahrzehnte später noch schüttelte Léon ungläubig den Kopf darüber, dass diese gleichgültige Episode eine der eindrücklichsten seines Lebens geblieben war und dass sich ihm die Farben und das Licht jenes Sommermorgens mit fotografischer Genauigkeit auf dem Grund seiner Seele eingebrannt hatten, wohingegen die wirklich bedeutsamen Ereignisse seiner Biographie – seine Hochzeit, die Geburten seiner Kinder, die Bestattung der Eltern – in ihm nur mehr als vage Erinnerung fortlebten.
Im Labor aber blieben aufregende Ereignisse aus. Nur alle paar Tage kam es vor, dass er seine statistische Arbeit unterbrechen musste, um eine verdächtige Probe auf Rattengift oder Arsen zu überprüfen. Diese Aufgaben erledigte er mit der gewohnten Sorgfalt und in der Gewissheit, dass er auch unter deutscher Besatzung im Dienst des Guten stand; denn unabhängig davon, wer nun gerade im Matignon und im Élysée das Sagen hatte, musste doch weiterhin der Grundsatz gelten, dass kein Mensch einem anderen Gift verabreichen darf.
Zwar war Léon klar, dass er als Polizeibeamter, ob ihm das gefiel oder nicht, ein Untergebener Marschall Pétains war und letztlich unter deutschem Kommando stand; solange sich aber sein Pflichtenheft auf den labortechnischen Nachweis von Giftmorden beschränkte, konnte er hoffen, weiterhin einigermaßen mit seinem Gewissen im Reinen zu bleiben.
Aber dann kam jener Morgen, an dem Léon wie gewohnt um Viertel nach acht zur Arbeit erschien und den Quai des Orfèvres aufs Neue schwarz von Polizeibeamten vorfand; sie standen missmutig in der Morgensonne auf dem Kopfsteinpflaster und rauchten, und die Türen waren verschlossen, und am Ufer der Seine lag vertäut ein Schleppkahn, den Léon als einen der beiden Kähne erkannte, die am 12. Juni mit ein paar Millionen Karteikarten flussaufwärts geflohen waren.
Zufällig stand in Léons Nähe derselbe junge Kollege, den er schon vor einem Monat um Auskunft gebeten hatte.
»Was ist hier los?«
»Was soll los sein«, brummte dieser und zuckte mit den Schultern. »Die Deutschen haben den Kahn erwischt.«
»Nur diesen einen?«
»Der andere ist nach Roanne entkommen.«
»Und der hier?«
»Ist stecken geblieben.«
»Wo?«
»In Bagneaux-sur-Loing, bei Fontainebleau.«
»So nah?«
»Ein Munitionsschiff ist vor ihm explodiert und hat den Fluss versperrt. Unsere Leute haben ihn unter Bäumen und Strauchwerk versteckt, so gut es eben ging, aber die Deutschen haben ihn gefunden. Was willst du machen, so ein Kahn ist groß und leicht aufzuspüren, der bleibt immer im Kanal. Der kann nicht querfeldein abhauen oder davonfliegen.«
»Immerhin ist es erstaunlich, dass die Deutschen unser Kanalsystem so gut kennen.«
»Und die Fracht unserer Schleppkähne.«
»Was willst du damit sagen?«
»Nichts. Was willst du damit sagen?«
»Auch nichts.«
Die Glocken von Notre-Dame hatten gerade halb neun Uhr geschlagen, als auf dem Quai des Orfèvres der schwarze Traction Avant des Polizeipräfekten vorfuhr. Links stieg Roger Langeron selbst aus, rechts ein großgewachsener junger Mann mit senfbraunem Hut und senfbraunem Mantel, roter Armbinde und randloser Brille, die seinem runden, glattrasierten Gesicht den Anschein eines freundlich-kurzsichtigen Gymnasiasten gab. Er gesellte sich leutselig zu den am nächsten stehenden Männern, streckte ihnen seine Zigarettenschachtel entgegen und verstaute sie, als niemand sich bedienen wollte, wieder in der Manteltasche. Währenddessen stieg der Polizeipräfekt mit einem Megaphon aufs Trittbrett seines Wagens.
»MESSIEURS, ICH BITTE UM IHRE AUFMERKSAMKEIT. SONDEREINSATZ SÄMTLICHER BEAMTER DER POLICE JUDICIAIRE NACH KRIEGSRECHT. DIE RECHTSWIDRIG VERSCHLEPPTEN AKTEN AUS BÜRO 205 MÜSSEN ZURÜCK AN IHREN ORDNUNGSGEMÄSSEN STANDORT GEBRACHT WERDEN. ALLE VERFÜGBAREN MÄNNER BILDEN EINE DOPPELREIHE VON DER QUAIMAUER ÜBER TREPPE F BIS ZU BÜRO 205 ! BEEILUNG,
DIE ZEIT DRÄNGT!«
Ein Murmeln ging durch die Menge, nur zögerlich warfen die Männer ihre Zigaretten weg. Zu übertriebener Eile sahen sie nun keinen Anlass mehr, da die Deutschen nicht mehr im Anmarsch, sondern schon eine ganze Weile hier waren. Nur allmählich und ohne Schneid formierte sich die grauschwarze Masse
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