Leonard Bernstein
älter als ich. Und sie hatte sich Locken legen lassen und flirtete wie verrückt. (Ich habe eine halbe Stunde im Wohnzimmer verbracht und ein, zwei Minuten weniger im Schlafzimmer.) Sie war die Personifizierung einer wunderbaren Wiener Operette.
Es heißt ja, es kommt nicht auf die Männer in deinem Leben an, sondern auf das Leben in deinen Männern. Und sie hatte ein paar fantastische Männer.
Sie muss in ihrer Jugend eine ungeheuer erotische Ausstrahlung gehabt haben. Aber wie auch immer, Mahler hat ihr nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt; sie brauchte sehr viel Befriedigung, und er war die ganze Nacht damit beschäftigt, in seiner kleinen Waldhütte seine 6. Sinfonie zu schreiben, während sie sich im Bett herumwälzte. Mahler hatte enorme Schuldgefühle wegen all dem – beim Alma-Thema im Scherzo der 6. Sinfonie sind die Ränder der Partitur übersät mit Ausrufen wie: Almschi, Almschi, bitte, hasse mich nicht, ich tanze mit dem Teufel! [Er singt das leidenschaftliche Alma-Thema.]
Almas Bekannte hatten ihr von diesem brillanten jungen Arzt namens Freud erzählt, von dem alle sprachen und der Mahler vielleicht guttun könnte. Aber nachdem Mahler drei Termine hatte platzen lassen, schrieb ihm Freud und sagte: Gut, Herr Dr. Mahler, wenn Sie beim vierten Termin auch nicht kommen, will ich nie mehr etwas von Ihnen hören. Als Mahlers Dampfer also auf dem Heimweg von Amerika in Rotterdam anlegte, traf er sich endlich mit Freud, auf dem Campus der Universität von Utrecht, wo sie ein paar Stunden lang auf einer Bank zusammensaßen. Und später schrieb Freud in einem Brief an einen seiner Schüler ungefähr Folgendes: »Ich habe den Musiker Mahler analysiert« (eine Analyse von zwei Stunden, wohlgemerkt! Freud war genauso verrückt wie sein Patient), »und ich habe entdeckt, dass er einen Maria-Komplex hat. Denken Sie daran, dass Mahlers Mutter Maria hieß, alle seine Schwestern hießen mit zweitem Namen Maria, und seine Frau hieß Alma Maria Schindler.« Es war in katholischen Familien aber etwas ganz Gewöhnliches, Maria als zweiten Namen zu haben, sowohl bei Frauen als auch bei Männern: Jesús Maria, José Maria, Jean-Marie …
Rainer Maria Rilke.
Rainer Maria Rilke.
[Er singt.] » I’ve just kissed a mom named Maria!«
Ja. Freud glaubte, dass Mahler sich in das Bild der Madonna verguckt hätte – das Latin-Lover-Dilemma, Mutter gegen Hure: Man verehrt die eine und geht mit der anderen ins Bett. Freud war der Meinung, dass Mahler vor allem mit diesem Problem zu kämpfen gehabt hätte. Aber nebenbei hatte Mahler einen Haufen Sinfonien zu schreiben, und er litt unter Zeitmangel. Er hat Freud in dem Jahr getroffen, in dem er auch gestorben ist. Er hatte nicht mal die Zeit, sich mit der Diagnose zu beschäftigen oder Freud einen zweiten Besuch abzustatten oder sich behandeln zu lassen. Er starb einfach. Und er starb keinen Moment zu früh. Glauben Sie mir, Jonathan, es gibt keine Zufälle – denn er litt elendiglich darunter, was mit der Musik geschah, mit seinem brillanten jungen Schüler und Kollegen Schönberg, der Mahlers Musik liebte, und Alban Berg, der seine 9. Sinfonie über alles schätzte … aber sie alle bewegten sich in Richtung der Zerstörung der Tonalität, und das konnte Mahler nicht ertragen … also ist er gerade zur rechten Zeit gestorben.
Aber hat sich nicht auch Mahler auf atonalem Gebiet bewegt?
In seiner 4. Sinfonie hat er schon damit gespielt – Bitonalität, Atonalität, Polytonalität. Im Andante seiner unvollendeten 10. Sinfonie gibt es fast einen Zwölftonakkord – es sind elf Töne auf einmal . Erstaunlich.
Aber ich spule noch einmal zurück und komme wieder auf das, was ich von kleinen Kindern und ihrem angeborenen Lerneifer sagte: Nachdem sie das Geburtstrauma, das Verleugnungstrauma und noch ein paar andere Traumata erlebt haben – fast hätte ich die Entdeckung des Geschlechts vergessen! –, die Wutanfälle auslösen (mit drei die Trotzphase, mit vier die Warum-Phase, mit fünf die ewige Quengelei), lernen sie ganz allmählich gewisse Tricks. Sie lernen, ihre Eltern und Tanten und Cousinen und besonders ihre Geschwister zu manipulieren, die jetzt die ganze Aufmerksamkeit kriegen … und plötzlich sitzen sie da in der Ecke und beobachten. Das passiert jedem Kind: »Ich liebe das neue Baby, Mommy, aber wann bringst du es zurück?« Wie in diesem wunderbaren alten Lied von Danny Kaye: »Oh, ich liebe das neue Baby / Hab den Finger in ihr Ohr gesteckt, und sie hat nicht
Weitere Kostenlose Bücher