Leonard Bernstein
sprechen, habe ich das Gefühl, dass Ihre Zukunft zu Ihrer Vergangenheit zurückkehrt, während gleichzeitig Ihre Vergangenheit zu Ihrer Zukunft zurückkehrt, als würden Sie irgendwie die Zeit aufheben.
Man kann durch Erinnerung die Zeit aufheben, wenn das Gedächtnis das erinnerte Ereignis antizipiert und es dadurch zu etwas Zukünftigem werden lässt. Sodass es, wenn man sich erinnert, zum Jetzt wird. Das ist sehr bedenkenswert.
Proust hat auch darüber nachgedacht.
Proust lebte in diesem ewigen Jetzt, indem er die Vergangenheit erinnerte und sie in ewige Zukunft verwandelte, nämlich in den nächsten Satz, an den er dachte, das nächste Ereignis, das er schildern, den nächsten Charakter, den er beschreiben wollte. Das ist die ewige Zukunft für einen Künstler.
Vishnudas Shirali war vielleicht nicht besonders von Mozart beeindruckt, aber auch Mozart war ein vollendeter Anfänger – und ich fand es immer interessant, dass er einmal sagte, viele seiner musikalischen Ideen seien ihm gekommen, während er in der Kutsche reiste oder nach einem besonders guten Essen einen langen Spaziergang machte.
Viele Musiker komponieren beim Gehen, ich allerdings nicht. Beethoven, Brahms und Benjamin Britten komponierten auf diese Weise – sie hörten es und gingen dann nach Hause, um es aufzuschreiben. Andererseits gab es Leute wie Strawinsky, der täglich von zehn Uhr bis mittags arbeitete … dann aß, die Post las, ein Schläfchen machte, durchsah, was er morgens geschrieben hatte … und am Abend entweder ausging oder über die Instrumentierung seines Stücks nachdachte. Am nächsten Morgen – wumm! Wieder ans Klavier, um zu komponieren. Auch Copland hat so gearbeitet.
Es heißt, dass Wagner nur komponieren konnte, wenn er sich in einem fast psychotischen Rauschzustand befand.
Wagner war immer in einem psychotischen Rausch, merkt man das nicht? Er hat immer komponiert. Er war ein Wahnsinniger, ein Größenwahnsinniger.
Bei Mozart ist es das Faszinierende, dass er angeblich ein komplettes (oder fast komplettes) Musikstück in seiner Vorstellung hören konnte! Er schrieb in einem seiner Briefe: »Wenn ich recht für mich bin und guter Dinge, etwa auf Reisen im Wagen, oder nach guter Mahlzeit beym Spatzieren, und in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, da kommen mir die Gedanken stromweis und am besten. Woher und wie, das weiß ich nicht, kann auch nichts dazu … Das erhitzt mir nun die Seele … und ich breite es immer weiter und heller aus; und das Ding wird im Kopf wahrlich fast fertig, wenn es auch lang ist, so daß ich’s hernach mit Einem Blick, gleichsam wie ein schönes Bild oder einen hübschen Menschen, im Geist übersehe, und es auch gar nicht nacheinander wie es hernach kommen muß, in der Einbildung höre, sondern wie gleich alles zusammen. Das ist nun ein Schmauß! Alles das Finden und Machen geht in mir nur wie in einem schönstarken Traume vor: aber das ueberhören, so alles zusammen, ist doch das Beste.« 20
Aber er konnte es tatsächlich! (Ich mache vor Mozart immer einen Kniefall.) Er meinte damit allerdings nicht, dass er das ganze Stück in einem einzigen Augenblick hörte. Er konnte, sagen wir, einen Takt hören, und er hatte in seiner Vorstellung die gesamte Struktur des Stücks vor sich – er konnte genau sehen, wohin es führte. Denn vergessen Sie nicht, dass Mozart in einer Zeit komponierte, in der man streng nach einem Schema vorging – dem Sonatenschema, dem Schema für Kadenzen, Rondos, Menuette und so weiter. Denken Sie nur daran, wie oft Mozart so etwas schrieb [L. B. singt eine charakteristische Mozart-Kadenz]. Oder eine solche rhythmische Figur [er singt]: Dam dam ta’dam dam di-di-di. Schauen Sie sich alle Werke von Mozart an, und Sie finden das tausendmal – dam dam ta’dam dam. Bestimmte Phrasen, bestimmte Motive gibt es einfach. Und dann weiß er, dass er das zweite Thema in die Dominante setzen muss – er muss entscheiden, ob er eine langsame Einleitung vor dem Allegro braucht, und er weiß, dass in der Reprise das, was in der Dominante stand, nun in die Tonika gesetzt werden muss. Oder, wenn es Moll war, kommt dann das, was in der verwandten Durtonart stand, in die parallele Durtonart oder in die Tonika der Molltonart.
Das wirklich Ehrfurchteinflößende daran ist, dass er auch die Entwicklungsstruktur vorhersehen konnte: In einem Moment der Inspiration wusste er, wie sich der Übergang von Thema eins zu Thema zwei gestaltete, auf welche Zellen oder Teile der Themen
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