Leonardos Drachen
prächtiger Gewandung war darauf abgebildet. Er trug ein zierliches Seitenschwert mit goldenem Griff, das wohl in erster Linie der Zierde diente. Sein Umhang war mit Goldbrokat verziert, und das Wams hatte soviele Knöpfe, dass sie in insgesamt vier Reihen auf der Brust angeordnet waren. Das Gesicht war noch nicht fertig. Es gab nur ein mit Bleistift gezeichnetes Ei und einen Punkt sowie zwei Hilfslinien, damit man sehen konnte, wo Augen, Nase und Mund hinkommen sollten.
Der Junge, der Perugino genannt worden war, hatte am Hintergrund gearbeitet und ein paar Tauben hinzugefügt, die in den Himmel flogen.
Das, was Leonardo aber sofort stutzen ließ, waren die Stiefel. Nicht nur, dass ihre Spitzen mit metallenen Beschlägen ausgestattet waren! Es gab auch eine V-förmige Aussparung, an der das dunkle Leder zum Vorschein kam. Dieses V-Zeichen war ganz fein auch auf den Knöpfen des Wamses und am Griff des Schwertes zu sehen.
„Welche Florentiner Familie benutzt dieses Zeichen?“, ging es Leonardo durch den Kopf.
„ L eonardo! Träum nicht!“, drang die Stimme seines Vaters in Leonardos Gedanken. „Meister Andrea hat dich etwas gefragt.“
Leonardo war von dem Anblick der Stiefelbeschläge auf dem Bild dermaßen gebannt gewesen, dass er überhaupt nicht mitbekommen hatte, was der Meistermaler gesagt hatte.
„Eins kann ich allerdings ganz sicher nicht gebrauchen: einen schwerhörigen Lehrling nämlich!“, meckerte Andrea del Verrocchio. Er hatte das Papier, das Perugino ihm gebracht hatte, auf einen Tisch gelegt, auf dem sich ansonsten Dutzende von Gefäßen befanden, in denenFarbstoffe angerührt worden waren. Es roch nach Eiern – denn Eier waren ein wichtiger Grundstoff vieler Arbeiten. So viel wusste Leonardo auch schon, denn schließlich hatte er auch selbst schon versucht, Farben herzustellen. Ein richtiger Maler musste das nämlich ohnehin können. Die genauen Rezepte für die Herstellung mancher Farbe wurden von den Meistern regelrecht geheim gehalten – denn das größte Talent nützte nichts, wenn das Gemälde am Ende ohne leuchtende Farben auskommen musste.
„Na los, zeig uns mal deine Kunst, Gesichter zu malen!“, forderte Meister Andrea ihn auf. „Dann sehen wir, ob aus dir noch etwas werden kann.“
Leonardo zögerte nicht lange. Er nahm den Bleistift, den man ihm gab, und begann, die ersten Striche zu ziehen. Das Erste waren immer die kleinen Markierungen, damit Augen, Mund, Nase und Ohren jeweils an der richtigen Stelle saßen und kein teuflisches, fratzenhaftes Zerrbild entstand.
Leonardo arbeitete sehr schnell, und schon nach wenigen Strichen war zu erkennen, wen er darstellen wollte: seinen Vater. Den hatte er ja schon mehrere Dutzend Mal gezeichnet und kannte inzwischen jedes besondere Kennzeichen seines Gesichts. Er vergaß nicht einmal die kleine Narbe am Kinn oder die Ader, die einen Fingerbreit über der Nasenwurzel zu sehen war.
Meister Andrea wartete gar nicht erst ab, bis er fertig war, sondern riss ihm gleich das Blatt weg, um es dann ins Licht zu halten. „Nicht schlecht“, murmelte er stirnrunzelnd. „Wirklich nicht schlecht.“
„Soll ich Euch noch ein anderes Gesicht zeichnen?“
In diesem Moment kam Botticelli zurück. Er war hochrot. Die Aufregung darüber, wie sein Meister ihn ausgeschimpft hatte, war ihm noch immer deutlich anzusehen.
„Wie wäre es mit diesem dort?“, schlug Meister Andrea vor und deutete dabei auf den sichtlich irritierten Botticelli. „Aber auch wenn Botticelli schon fast wie Bottich klingt, soll auf dem Bild nicht einfach ein Fässchen zu sehen sein“, machte sich Meister Andrea über seinen Lehrling lustig. Botticelli fand das überhaupt nicht zum Lachen, das sah Leonardo ihm deutlich an.
„Ich brauche etwas Zeit, um mir sein Gesicht genau anzusehen“, meinte Leonardo, dessen Gedanken immer noch in erster Linie darum kreisten, was es wohl mit dem V-Zeichen auf den Stiefeln des auf dem Bild dargestellten kopflosen Edelmannes auf sich hatte.
„Konzentriere dich! Und sei mit den Gedanken bei der Sache!“, raunte ihm deswegen sein Vater leise ins Ohr, ohne dass irgendjemand von den anderen es mitbekam. Ser Piero hatte wohl schon bemerkt, dass seinen Sohn irgendetwas anderes beschäftigte.
„Wenn du Zeit brauchst, bist du hier nicht am richtigen Platz, Junge“, sagte unterdessen Andrea del Verrocchio an Leonardo gerichtet. „Zeit gibt es hier immer zu wenig. Wenn irgendeiner von den reichen Bürgern der Stadt ein Bild von
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