Leonardos Drachen
genau“, meinte Meister Andrea. Er musste noch einmal laut lachen. „Wie kann es nur sein, dass du glaubst, der Stadtherr von Florenz wäre vielleicht einKindermädchen, das Lust hat, mit einer halben Portion wie dir seine Zeit zu verschwenden?“
„Geht Ihr auf diese Bedingung ein oder nicht?“, wiederholte nun Leonardo in aller Seelenruhe seine Frage.
Meister Andrea lachte Tränen. „Also eins muss ich dir wirklich lassen: Zu wenig Selbstbewusstsein hast du jedenfalls nicht!“ Dann ergriff der Meistermaler Leonardos schlaff herabhängende Hand und schüttelte sie. „Wenn ich auf diese Bedingung eingehe und dafür einen wenigstens halbwegs guten Gesichtermaler bekomme, dann ist das wirklich kein schlechter Handel.“
„Also sind wir uns einig?“, vergewisserte sich Leonardo noch einmal.
„So wahr, wie ich hier stehe und einen Pinsel halten kann!“, versicherte Meister Andrea mit spöttischer Feierlichkeit. Dann wandte er sich an Ser Piero. „An Eurem Sohn scheint wirklich ein Händler verloren gegangen zu sein!“
Das unheimliche V
W ährend Ser Piero sich nun eilig zum Palast begeben musste, blieb Leonardo gleich in der Werkstatt von Meister Andrea, um seine Lehrzeit zu beginnen. Ser Piero hatte dem Meister zuvor noch einen Vorschuss auf das Lehrgeld gezahlt. Denn schließlich hätte niemand erwartet, dass ein Meister sein wohlgehütetes Wissen umsonst weitergab.
„Viel Vergnügen hier bei uns in der Werkstatt“, raunte Botticelli Leonardo zu. „Ich hätte übrigens nichts dagegen, wenn du mich bei meinem richtigen Namen – Sandro Botticelli – nennst! Und nicht etwa ‚Fässchen‘!“
Leonardo deutete eine Verbeugung an. „Leonardo da Vinci“, stellte er sich mit etwas übertriebener Feierlichkeit vor. „Anderen Leuten auch bekannt als Leonardo di Ser Piero d’Antonio.“
„Vinci? Ist das nicht dieses Kuhdorf bei Empoli, das aus einem Gasthaus und den zusammengefallenen Mauern eines alten Römerkastells besteht, dessen restliche Steine niemand mehr haben wollte?“, mischte sich Perugino ein.
Leonardo grinste. „Eines Tages wird man sich an dieses Dorf erinnern, weil ich dort geboren bin!“, meinte er mit gespielter Übertreibung.
„Sieh erst mal zu, ob du die Nase von diesem Vespucci hinbekommst!“, meinte Perugino. „Mich nennt man übrigens Perugino, weil ich aus Perugia komme.“
„Du hast gerade den Namen Vespucci erwähnt“, stellte Leonardo fest. „Ist das der Name der Familie, aus der der Kopflose da vorne stammt – ich meine, der mit dem V auf den Stiefeln?“
„Ja, sicher. Das V ist doch das Zeichen der Vespucci!“
„Die sind so eitel und eingebildet, ich schätze, die lassen sich das sogar in ihr Unterhemd sticken, wo es sowieso niemand sieht“, lachte Botticelli.
„Sie sind wirklich sehr eingebildet!“, meinte Perugino. „Und das Schwierigste an ihnen sind ihre Nasen! Das ist ja nicht das erste Bildnis eines Vespucci, das wir anfertigen. Malt man die Nase so, wie sie ist – nämlich breit und dick –, dann sind sie beleidigt. Wenn man das aber nicht tut, hat man zwar ein schönes, ebenmäßiges Gesicht, aber man erkennt den Betreffenden nicht mehr!“
„Du siehst, Leonardo, dass dies kein leichtes Handwerk ist“, ergänzte Perugino.
Jetzt fuhr Meister Andrea dazwischen. „Schluss mit dem Gequatsche! Hier muss auch noch gearbeitet werden! Schließlich malen sich die Gesichter ja nicht von allein.“
Z unächst ließ Meister Andrea Leonardo natürlich nicht gleich Gesichter malen. Aber immerhin ließ er den Jungen zusehen, wenn der Meister selbst den Pinsel ansetzte. Strich für Strich, Farbtupfer für Farbtupferkonnte Leonardo auf diese Weise mitverfolgen, wie Meister Andrea das Gesicht des Herren Vespucci auf der Leinwand entstehen ließ.
„Das ist Salvatore Vespucci“, erklärte Meister Andrea. „Du kennst ihn ja nicht, aber wenn er in ein paar Tagen hier auftaucht, um das Bild zu begutachten und abzuholen, dann wirst du ja sehen, ob ich ihn gut getroffen habe.“
„Darauf bin ich schon sehr gespannt“, erklärte Leonardo.
Allerdings war er aus einem anderen Grund gespannt, als Meister Andrea das wohl vermutete. Der Junge aus Vinci wollte nämlich unbedingt mehr über die Familie erfahren, die ein V an den Stiefelspitzen trug. Wenn das ein Familienzeichen war, dann musste es doch wohl einer der Vespucci gewesen sein, der an jenem Abend das Haus von Ser Piero beobachtet hatte.
„Ich bin genauso gespannt“, gestand
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