Léonide (German Edition)
fen, hat sich ein mir fremder, undefinierbarer Ausdruck auf sein Gesicht geschlichen. Er lässt meine Hand los, und wir steigen das letzte Stück des Pfades hinauf.
Auf dem Rückweg kauft Frédéric zwei Croissants, die wir auf einer Parkbank essen. Beaucaires Ziegeldächer leuchten in der Herbstsonne und der Wind rauscht durch das burgunde r rote, lichtgelbe und kastanienfarbene Laub und treibt den Staub über die Straßen. Dennoch vermisse ich den Sommer, die gl ü hende Hitze, das Zirpen der Zikaden und die fremda r tigen, oft gegensätzlichen Gerüche nach frischem Fisch und Staub, So n ne und Piniennadeln, Lavendel und menschlichen Ausdün s tungen. Der Sommer erinnert mich an Willem und ihm in G e danken nachzuhängen, lässt mich beinahe vergessen, dass er tot ist. Ich weiß, wenn erst einmal der Winter da ist, ist alles vorbei. Ein Leben mit meinem Bruder, die Farben … alles vorbei.
»Sie sind schon wieder so still«, murmelt Frédéric. Ich regis t riere erst nach ein paar Sekunden, dass er etwas gesagt hat. »Langsam aber sicher machen Sie mir Konkurrenz.«
Die Bemerkung entlockt mir nur ein müdes Lächeln. Ich zupfe ein Stück meines Croissants ab und nehme es in den Mund, obwohl ich keinen Appetit habe.
»Sie hätten eben nicht mit mir spazieren g e hen dürfen«, sage ich nach einer Weile. »Ich bin keine besonders geistreiche B e gleitung.«
»Ich würde das nicht verallgemeinern – heute vielleicht nicht.«
»Sie sind die Diplomatie in Person.« Meistens jedenfalls und ganz im Gegensatz zu mir. »Haben Sie eigentlich auf alles eine Antwort?«
Frédéric schweigt.
»Offenbar nicht«, sage ich und esse den Rest des Croissants, um Frédéric keinen weiteren Grund zur Besorgnis zu geben. Ich hasse es, von ihm bevormundet zu werden.
Kauend beobachte ich das Treiben auf den Straßen und ve r schlucke mich beinahe . Auf der anderen Straßenseite steht ein Mann, der mir unheimlich bekannt vorkommt. Er blickt ins Schaufenster einer Apotheke und scheint mich nicht b e merkt zu haben.
Obwohl er mit dem Rücken zu mir steht, bin ich mir sicher, dass es Costantini ist.
Ohne Zögern stehe ich auf und stürze auf die andere Str a ßenseite. Hinter mir höre ich Frédéric fluchen, doch es kü m mert mich nicht. Costantini hat mich noch nicht bemerkt, also mache ich mir das Überraschungsmoment zunutze.
»Wie schön, Sie wiederzusehen.«
Costantini dreht sich zu mir um und starrt mich an. Bei se i nem Anblick habe ich das Gefühl, in einen Malstrom gezogen zu werden . Er steht stolz und aufrecht vor mir, die Lippen vo l ler und röter denn je. Seine Haare sind nicht mehr grau, so n dern haben einen merkwürdigen Ton zwischen Blond und Weiß angenommen. Lediglich seine Augen sind noch immer hell und kalt und überzeugen mich davon, tatsächlich Costa n tini vor mir zu haben. Ihren Ausdruck kann ich nicht deuten. Ist es Schuld?
Mir entgeht nicht, dass er gespannt auf etwas zu warten scheint, seine Instinkte scheinen darauf zu zielen, auch die s mal zu fliehen. Allerdings ist das auf offener Straße nicht ganz so einfach wie auf einem Markt, der genügend Raum zum U n tertauchen bietet.
Frédéric tritt neben mich, und Costantini erstarrt. Er hat nicht damit gerechnet, dass ich in Begleitung bin.
»Wer ist der Mann?«
»Costantini.« Selbst in meinen Ohren klingt meine Stimme grimmig, hart, entschlossen.
Costantini wirbelt auf dem Absatz herum, sein Mantel fla t tert um seine Knöchel. Diesmal aber ist er zu langsam . Frédéric packt ihn beim Handgelenk.
»Sie sind Costantini?« Frédérics Blick wandert über den j u gendlich aussehenden Mann mit den eisblauen Augen, der trotz der herbstlichen Wärme dunkle, schwere Kleidung trägt. »Ich habe Sie mir älter vorgestellt.«
Costantini versucht, sich loszureißen, doch Frédérics Hand packt umso fester zu. »Wir müssen mit Ihnen sprechen. Ich lasse Sie los, wenn Sie mir versprechen, nicht wegzulaufen.«
Mittlerweile hat sich um uns herum ein kleiner Mensche n auflauf gebildet.
Costantinis Augen sprühen vor Zorn. »Lassen Sie mich los! Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen, ich kenne keinen Costantini . «
Der Klang seiner Stimme – raschelndes Papier, Alter und Staub – jagt mir einen Schau d er über den Rücken.
»Sie lügen.« Ich trete an Frédérics Seite und begegne Costa n tinis Blick ohne Furcht. »Was haben Sie mit meinem Bruder gemacht?«
Seine Augen weiten sich. »Lassen Sie mich los! Sie sind ve r rückt, Sie alle beide
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