Léonide (German Edition)
und verbissener werde.
4. August
Eine Woche voller Heimsuchungen. Mein Zustand zeigt keine Ve r schlechterung, aber er bessert sich auch nicht. Man könnte sagen, er ist konstant schlecht.
Ich male wie ein Besessener und spreche den ganzen Tag kein Wort, nicht einmal mit Léo. Oft weiß ich nicht mehr, wer sie ist, erkenne ihr Gesicht nicht wieder. So geht es mir mit vielen Menschen, die mir einmal etwas bedeutet haben und die nun unwichtig geworden sind. Ich lebe unter einer Glocke aus Glas in waberndem Nebel, der die Sicht auf die Welt und die Menschen ringsumher versperrt. Nur ein Gesicht sticht in vorhe r sehbarer Regelmäßigkeit daraus hervor . Es ist das Gesicht von Costant i ni, meinem Gönner, meinem Freund, meiner Angst.
Das Brennen der Sonne stört mich nicht mehr, obgleich ich jeden Tag in der Mittagshitze verbringe. Ich habe mich an das konstante Feuer g e wöhnt, und obwohl es mir Schmerzen bereitet und mich regelmäßig z u sammenbrechen lässt , spüre ich es kaum mehr. Es ist ein Teil von mir g e worden, genauso wie meine Albträume, meine Halluzinationen, meine Wut und die Hysterie, die mit ihr einhergeht. Ich weiß, ich nähere mich me i nem Ende, und es wird ein großes, furchterregendes Ende sein, das die Welt niemals verge s sen wird.
11. August
Es verlangt meinen Gönner nach einem Auge, und ein Auge soll er haben.
Saint-Rémy, 13. August
Seit gestern bin ich in der Nervenheilanstalt Saint-Paul-de-Mausole und zähle die Stunden. Die Anstalt ist in einer ehemaligen Abtei unte r gebracht, und obwohl die Schwestern freundlich und fürsorglich sind, e r scheint sie mir schon jetzt wie ein Gefängnis. Immerhin lassen sie mich in Ruhe; ich darf die Tage im Freien verbringen und mich zu Fuß bis zu eine Stunde vom Kloster entfernen, um zu malen. Sie haben mir einen Raum bereitgestellt, in dem ich meine Gemälde, die Staffelei, Leinwände und Farben unterbringen kann. Ich glaube, nur wenige der anderen Pat i enten genießen solche Privilegien. Im Gegenzug habe ich den Schwestern versprochen, mich von den anderen fernzuhalten. Ich weiß nicht, ob sie fürchten, dass ich einen schlechten Einfluss auf sie haben könnte.
Ich glaube nicht, dass es den Patienten hier gut geht. Zwar werden sie nicht misshandelt, doch niemals bekommen sie ein Wort der Ermutigung oder auch nur eine Aufforderung zu hören, sich in den langen Stunden, die sich zwischen Tag und Nacht ausdehnen, mit etwas Sinnvollem zu beschäftigen. Es ist traurig , mit anzusehen , wie sie sich in sich zurüc k ziehen und, stumm vor sich hinstarrend, das Leben an sich vorbe i ziehen lassen.
Die Gitterstäbe vor meinem Fenster, die mein Zimmer von der A u ßenwelt trennen, ermahnen mich jeden Tag, standhaft zu sein, denn sie halten mir vor Augen, dass ich in Wirklichkeit nichts weiter als ein G e fangener bin.
Ich muss aufhören . D ie Schwestern kommen, um mich in die Bad e räume zu bringen – mir steht meine erste Hydrotherapie bevor.
23. August
In meinem Traum von letzter Nacht stand ich am Rande einer rauen Felsformation aus weißem Kalkstein, in meinem Rücken ein kleines Dorf, dessen sandfarbene Häuser sich gegen den Wind und aus Angst vor dem Abgrund aneinanderschmiegten . Der Wind fuhr mir mit seinen Finger n durchs Haar, und zum ersten Mal seit Wochen fühlte ich mich leicht und frei, denn ich träumte nicht von IHM. Dann machte ich einen Schritt nach vorn, und die Luft umfing mich. Unter mir rauschten Zwe i ge und Blätter von Olivenbäumen, Pinien und Kermeseichen, und ich ließ mich treiben und schwebte auf seinen Flügeln davon.
Ich denke, ich werde ein Bild von dieser Landschaft malen, die ich nun, da ich wieder wach bin, als Les Baux erkannt habe. Ich weiß nicht, ob es mein letztes sein wird.
An dieser Stelle brechen Willems Aufzeichnungen ab. O b wohl er nicht regelmäßig Tagebuch geführt hat, wundert es mich, dass er nicht mehr über Saint-Paul-de-Mausole und Saint-Rémy geschrieben hat.
Costantini. Costantini, der ihn immer wieder heimgesucht und ihn schließlich in den Tod getrieben hat. Ist er der Grund dafür, dass Willems Aufzeichnungen so plötzlich abbrechen? Oder waren seine Stimmungsschwankungen am Ende vie l mehr so heftig und seine Gedanken über die Nervenheilanstalt so bitter, dass er sie nicht einmal mehr mit dem Papier teilen wollte?
»Woran denken Sie?«
Ich schüttle den Kopf und presse die Lippen aufeinander, bis das Blut aus ihnen gewichen ist und sie vor Schmerz p o
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