Léonide (German Edition)
habe, was sie mir einzuflüstern versucht, weiß ich, was mich so nervös macht. Es hat etwas mit Willems Tagebuch zu tun . B ereits mehrmals ha be ich es zur Hand genommen und durchgeblättert in der Hoffnung, einen Hinweis zu fi n den. Die Ahnung nagt beständig an mir – es ist, als wüsste ich ganz g e nau, dass ich etwas vergessen habe, ohne darauf zu kommen, was es ist.
Während sich Frédéric in den Schnee wagt, packe ich unsere wenigen Habseligkeiten zusammen und gehe hi n unter zum Wirt, um ihn von unserer Abreise zu unterrichten. Er wirkt nicht überrascht.
»Ihr Mann hat mir schon gesagt, dass Se nich’ mehr lange bleiben werd’n. Er is’ gerade im Dorf, um ’ne Postkutsche zu bestellen.«
»Ich weiß«, erwidere ich und verzichte darauf, den Wirt d a rauf hinzuweisen, dass Frédéric nicht ›mein Mann‹ und ich keine verheiratete Frau bin. Ich will uns nicht unnötig in Schwierigkeiten bringen.
»Is’ ein Sauwetter«, murmelt der Wirt und deutet mit dem Kopf zur Tür des Wirtshauses. »Schnee zu diese r Jahreszeit! Hätte nich’ gedacht, dass ich so was noch erlebe.«
Ich wechsle das Thema. »Es gibt da etwas, das ich Sie noch fragen wollte, Monsieur.«
Der Wirt nickt. »Fragen Se nur, Madame , fragen Se nur.«
»Ich habe darüber nachgedacht«, beginne ich unsicher, »wer wohl der Mann war, der mir das Päckchen hat zukommen la s sen.«
Der Wirt wischt mit seiner Schürze über den Tresen, obwohl dieser bereits blank poliert ist. » Haben Se denn ’ne Verm u tung?«
»Die habe ich. Sagen Sie, trug der Mann zufällig eine Binde über seinem Auge?«
Der Wirt runzelt die Stirn, in seinen Augen liegt ein neugi e riger Glanz. »Nein, er trug keine Binde. Warum fragen Se?«
»Ich habe mich nur gefragt … « Ich mache eine Pause. »Und seine Augen waren beide gesund?«
»Vollkommen gesund«, bestätigt der Wirt und reibt seine Glatze. »Warum?«
Ich schüttle den Kopf und zwinge mich zu einem Lächeln. Ich habe doch nicht wirklich geglaubt, dass … ?
»Aus keinem bestimmten Grund«, sage ich. »Ich kenne bloß jemanden, auf den die Beschreibung hätte zutreffen können, aber der trägt eine Binde über dem Auge. Wie es aussieht, muss ich wohl woanders nach dem geheimnisvollen Brie f schreiber suchen.« Ich zucke betont unbekümmert mit den Achseln. »Noch eine Bitte: Würde es Ihnen etwas ausmachen, meinem Mann nichts von unserem Gespräch zu erzählen? Er macht sich immer solche Sorgen.«
Der Blick des Wirtes ist misstrauisch. Soll er doch denken, dass ich einen heimlichen Liebhaber habe.
»Wie Se wünschen, Madame .«
Ich will mich schon abwenden, als der Wirt noch einmal den Mund öffnet. »Sie sprachen von ’nem Mann mit ’ner Binde überm Auge«, sagt er. »Dann interessiert es Sie vielleicht, dass hier in Roussillon vor ’n paar Wochen ’n Mann gesichtet wu r de, auf den Ihre Beschreibung zutreffen könnte. Er war ’n Fremder und ist nur ’ne Nacht geblieben, aber darüber war ich ehrlich gesagt ganz froh – war ’n unheimlicher Kerl.«
»Unheimlich? Inwiefern?«
»Na ja, er hat kaum ’n Wort gesprochen und ist den Leuten hier im Dorf ausm Weg gegangen. Hat kaum sein Zimmer verlassen, während er hier war. Er hatte nur noch ein Auge, aber das war merkwürdig, sag ich Ihnen. Als würde man ’nem Sturm ins Gesicht blicken oder dem Teufel. Ein Auge wie Feuer und Eis, sag ich Ihnen.«
»In welchem Zimmer haben Sie ihn untergebracht?«
Der Wirt stößt ein raues Lachen aus, das mir in den Ohren dröhnt und in meinen Eingeweiden widerhallt. Plötzlich weiß ich, was er antworten wird.
»Na, im selben Zimmer wie Sie und Ihren Mann.«
Trotz der Warnungen des Wirts, besser im Haus zu bleiben, zieht es mich nach draußen. Ich muss nachdenken und sehne mich danach, den Schnee unter den Füßen knirschen zu h ö ren, ihn berühren zu können. Ich habe Bücher über die Arktis und die tiefen Wälder Skandinaviens gelesen, aber Schnee selbst g e sehen und gespürt habe ich noch nie.
Die Kälte schneidet mir in die ungeschützten Wangen. Der Schnee ist schmutzig von den Füßen, die ihn bereits durc h quert haben, und fällt in dichten Flocken vom Himmel, sodass man das Gefühl hat, die Welt wäre in tiefen Schlaf gesu n ken.
Das Bild des verschneiten Roussillon hat etwas Trauriges an sich. Kein Mensch ist auf den Straßen unterwegs, die Felsen, die normalerweise wie blutige Erde in der Sommersonne leuchten, wirken unter der Schneedecke schwarz und schmu t zig. Die
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