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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Schaefer
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Weinbauern, die gestern noch ihrer Arbeit auf den rebenbewachsenen Hängen nachgegangen sind, haben ihre Häuser heute nicht verlassen – sicher machen sie sich Sorgen um den Rest ihrer Ernte, der nun wie das Gras und die Geb ü sche unter dem Schnee fault.
    Was passiert mit mir?, frage ich mich. Werde ich wahnsinnig oder ist alles, was ich sehe und erlebe, wahr? Um Himmels wi l len, was soll ich tun? Sag mir, was ich tun soll …
    Ich warte in Les Baux …
    Ich bin unfähig, die Stimme aus meinem Kopf zu vertre i ben. Ich weiß, hinter dem, was sie mich glauben machen will, lauert der Wahnsinn. Statt ihr Gehör zu schenken, de n ke ich an Willem und sein Tagebuch und daran, dass ich erst jetzt, da mein Bruder tot ist, verstehe, was in ihm vorg e gangen ist, was er durchgemacht hat. Er hat sich um seiner geistigen Gesun d heit willen gequält, hat solchen Schmerz e r fahren und musste trotzdem scheitern. In Vergessenheit ger a ten.
    Aber ich werde dich nicht vergessen. Niemals.
    Ich erinnere mich noch sehr gut an einen der Tage, die er in seiner beinahe unleserlichen Handschrift in seinem Tagebuch festgehalten hat – den Tag, an dem ich Willem bewusstlos in seinem Zimmer gefunden habe. Das Bild hat sich in meine Iris gebrannt wie eines seiner Gemälde, aber in meiner Erinnerung ist es merkwürdig verzerrt und leuchtend, als hätte ich in G e danken andere Farben über die Szenerie gelegt.
     
    In Willems Zimmer fällt scharfes, blendendes Sonnenlicht, und in den Strahlen, die durch das schmutzige Fenster fallen, tanzen und wirbeln Staubflocken. Auch die Dielen wirken staubig und knarren unter meinen Schritten. In der Luft hängt der Geruch von Ölfarben und Terpentin, und auf der Staffelei steht eines der vielen Gemälde, mit denen Willem in letzter Zeit begonnen hat. Er hat die Angewohnheit, zeitgleich an mehr e ren Bildern zu arbeiten – er sagt, das halte ihn davon ab, sich zu sehr in der Welt eines einzigen Bildes zu verlieren.
    Ich rufe nach Willem, doch er antwortet nicht. Arbeitet er heute dra u ßen auf dem Feld? Ich bin mir sicher, er hat niemandem von uns etwas gesagt, obwohl er das sonst immer tut. Andererseits hat das nichts zu bedeuten , er hat sich in letzter Zeit sehr verändert. Manchmal, wenn er fieberhaft an seinen Bildern arbeitet und nichts um sich herum wah r nimmt, erkenne ich ihn kaum wieder, und auch d a nn nicht, wenn er e i nen anfährt, sobald man ihn beim Malen unterbricht. Er ist … b e sessen. Sein Pinsel, der sich früher in ruhigen Wellenlinien und mit sanftem Schwung über die Leinwand bewegt hat, drückt sich nun durch fi e bernde Hast und scharfe Linien aus. Seine Bilder wirken düster, unruhig und – ich wage kaum, es mir einzugestehen – grausam.
    »Willem?«
    Ich mache einen Schritt auf Willems Schreibtisch zu, und erst da sehe ich die Hand auf dem Boden, die hinter dem Schreibtisch hervorragt wie eine Klaue. Ich trete ein Stück näher, obwohl sich alles in mir dag e gen sträubt und danach schreit, davonzulaufen. Diese Feigheit verbiete ich mir.
    Hinter dem Schreibtisch liegt Willem, die Beine angewinkelt, die Arme ausgestreckt, die Augen geschlossen, den Mund wie in einem lautlosen Schrei aufgerissen. Auf seinen Lippen und dem Kinn kleben Reste von etwas Rotem, das ich im ersten Moment für Blut halte, allerdings nur so lange , bis ich die ausgequetschten Farbtuben bemerke, die überall um Willem herum auf dem Boden verstreut liegen.
    Und da begreife ich.
    Es ist kein friedliches Bild, sondern eines voller Selbsthass und Zerst ö rung, kein Bild über den ›ewigen Schlaf‹, wie der Tod oft beschönigend genannt wird. An dem, was ich sehe, ist nichts Schönes.
    »Willem!« Ich sinke auf die Knie. Ein Holzsplitter bohrt sich unter meinem Knie in mein Fleisch , ich spüre es kaum. Langsam lege ich meine Finger auf Willems Lippen, um seinen Atem zu überprüfen. Für einen Augenblick fühle ich nichts und mein Herz steht still. Dann erst begreife ich, dass meine Finger vollkommen taub sind, und ich beuge d en Kopf hinunter und lege ihn auf Willems Brust.
    Wie der Schlag einer tiefen, dunklen Trommel pocht Willems Herz g e gen seine Rippen, so ruhig und gleichmäßig, wie es im Wachen – da bin ich mir sicher – niemals schlägt. Ich frage mich, ob der Zustand zwischen Leben und Sterben wohl dem zwischen Wachen und Schlafen ähnelt, denn das ist es, was ich mir vorstelle.
    Der scharfe Geruch von Terpentin und Ölfarbe raubt mir beinahe den Atem, und mir wird sch w ummrig.

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