Léonide (German Edition)
ich spüre, wie er auf me i ner brennenden Haut schmilzt. Mein Atem bildet kleine Rauchwölkchen, die in der Kälte zerstieben.
»Léo?«
Ich spüre eine Hand auf meiner Schulter – zärtlich, sachte – und wende den Kopf. Die Luft vor meinen Augen flimmert wie vor Hitze, doch es ist niemand zu sehen. In meinen Ohren ist ein merkwürdiges Pfeifen, und die Stille um mich herum erscheint mir mit einem Mal erdrückend. Ein Wirbel aus Schneeflocken streicht mir über die Wange.
»Léo … « Die Stimme hallt wie ein Echo in meinem Kopf wider. Ich weiß, ich kenne sie … Warum also komme ich nicht darauf, wem sie gehört?
In der Ferne sehe ich einen langen, schwarzen Schatten, der sich immer weiter von mir entfernt. Die Schneeflocken wi r beln mir ums Gesicht und legen sich auf meine Wimpern, s o dass meine Sicht verschwimmt. Ich reibe mir die Augen und zwinge meine Füße, sich in Bewegung zu setzen, getri e ben von einem inneren Drang, dem ich nicht gewachsen bin.
Der Schatten ist kein Schatten. Es ist die undeutliche Gestalt eines Mannes, der mit dem Rücken zu mir durch den Schnee geht. Er ist barfuß und hat die Hände in den Hosentaschen vergraben, das Hemd nachlässig in den Bund seiner dunklen Baumwollhose gesteckt. Sein Haar ist feucht und glänzt in e i nem dunklen Kupferton.
»Willem?« Atemlos zwinge ich meine Schritte zu einem noch schnelleren Tempo, bis ich der fremden und doch so vertra u ten Gestalt hinterherrenne und beinahe über meine eigenen Füße stolpere. Der Fremde dreht sich nicht zu mir um, und obwohl er ruhig und gemächlich durch den Schnee geht , als hätte er alle Zeit der Welt , bleibe ich immer weiter hinter ihm zurück. Mein Atem brennt mir in der Brust, meine Beine zi t tern vor Kälte und Anstrengung. Ich spüre meine Arme und Hände nicht mehr, der kalte Wind treibt mir Schneeflocken entgegen, scharfe Eiskrusten durc h schneiden mein Fleisch. Inzwischen renne ich, der Schnee wirbelt bei jedem Schritt auf, und doch erreiche ich den Mann vor mir nicht. Es scheint, als weh t e der Wind ihn vor mir her, sodass er mir immer einen Schritt voraus ist. Als würde ich einer Illusion folgen. Als ich inmitten des Sturmes die Hände nach ihm ausstrecke, ve r schwindet er in einem Wirbel aus Weiß.
Keuchend bleibe ich stehen und lege meine Arme um den Oberkörper. Die Kälte beißt und kratzt – grausam, unb e zähmbar. Ich wische mir über die Augen, meine Wangen und den Mund.
»Léonide?«
Überzeugt davon, es erneut mit einer Illusion zu tun haben, ignoriere ich die Stimme, die schattengleich durch den zorn i gen Schneesturm dringt. Der Schnee tanzt und wirbelt um mich herum – schneller, schneller –, bald schon habe ich das Gefühl, unter einem weißen Schleier begraben zu sein, allein und abgeschottet von der Welt.
Es war ein Fehler, der Gestalt zu folgen, die ich für Willem gehalten habe. Ein Fehler, sich überhaupt so weit vom Wirt s haus zu entfernen. Ich bin in eine Falle gelaufen.
»Léo?«
Der Wind pfeift in meinen Ohren und schneidet in mein Trommelfell. Schmerzen … Ich hebe die Hände; sie sind vo l ler Blut. Auch unter meinen Fingernägeln klebt es und als ich mein Gesicht berühre, spüre ich Kratzer unter den Fingerspi t zen.
»Nein«, wispere ich, »lass mich in Ruhe!«
Eine Hand packt meinen Oberarm und dreht mich zu sich herum. Vor mir steht Costantini, und seine Augen sind scharfe Eis splitter. Ich halte die Luft an, spüre den Griff der g e krümmten Finger in meinem Fleisch.
»Lassen Sie mich los«, sage ich, doch meine Stimme wird vom Wind davongetragen wie ein Stück Papier. Inzwischen ist er so stark geworden, dass meine Haare mir ins Gesicht pei t schen.
Ich lasse dich erst los, wenn ich habe, was du mir versprochen hast. Nur ein Auge, Léonide, ein einziges Auge, dünne Adern und eine leuc h tende Iris … Du weißt doch sicher, dass Augen der Spiegel der Seele sind.
Seine Stimme ist in meinem Kopf, seine Lippen bewegen sich nicht. Stattdessen heben sie sich zu einem Lächeln. Sein weißblondes Haar umkränzt seinen Kopf wie ein bizarrer He i ligenschein. Mit der freien Hand nimmt er einen silberglä n zenden Gegenstand aus der Manteltasche und drückt ihn mir in die Hand.
Ich will, dass du es selbst tust, Léonide. Es wird mir die Kraft geben, die ich brauche.
Das Barbiermesser liegt schwer in meiner Hand. Als ich es hin und her wiege, presst sich die Schneide in meine Handfl ä che. Warmes, feuchtes Blut. Langsam hebe ich das Messer vor mein
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