Léonide (German Edition)
Überall auf dem Dielenboden sind Flecken blauer, roter und schwarzer Farbe. Der Geruch ist penetrant und Übelkeit erregend .
Ich habe mich für stärker gehalten, als ich bin. Taumelnd richte ich mich auf, muss mich mehrmals an Willems Möbeln abstützen: dem Schreibtisch, einer Kommode aus Ebenholz, einem Korbstuhl.
»Vater«, murmle ich und hoffe, dass meine Stimme nicht schwindet, ehe ich irgendjemandem gefunden habe, dem ich es sagen kann. »Vater!«
Ich werde nie vergessen , wie mein Vater angestürmt kam, schockiert über den Ausdruck in meinen Augen, und sofort wusste , dass es nur um Willem gehen konnte ; wie Cornélie mich in ihre Arme zog; wie sie einen Arzt holen ließen, dem es gelang, Wi l lem zurückzuholen.
Vielleicht musste es so kommen. Vielleicht hatte Willem nie eine Chance auf Leben. Vor seinem Tod hatte er bereits zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen. Beim dritten mal hatte er Erfolg. Er hat es so gewollt, oder nicht? Wie also komme ich dazu, Costantini für das Geschehene verantwor t lich zu machen?
Vielleicht hat Frédéric r echt ; vielleicht sind Willems Bege g nungen mit Costantini tatsächlich nur dessen Fantasie en t sprungen. Trotzdem fühlt sich allein der Gedanke an, als wü r de ich me i nen Bruder hintergehen.
Auch ich habe Dinge gesehen, die ich meiner eigenen Seele nicht einzugestehen wage: Costantini, von Treffen zu Tre f fen jünger und jünger, ein Mann, der mit bloßen Händen Mauern emporklettern kann wie eine Eidechse, der sich in Träumen und Visionen einnistet, um Angst in ihnen zu säen …
Was hat Willem geschrieben? Costantini fragte mich, was ich zu tun bereit wäre, um ein wahrhaft großer Künstler zu werden. Ich antwo r tete ihm, dass ich bereit wäre, alles dafür zu geben, und er nickte und reichte mir die Hand. In mir war eine Hitze wie von einem großen Feuer, und als unsere Hände sich berühren, durchzuckte mich ein blendender Schmerz, der sich anfühlte, als hätte man mir mit einer Nadel den Brustkorb zerstochen.
Wieder habe ich das Gefühl, etwas übersehen zu haben.
Vergessen Sie nicht unsere Übereinkunft.
Und da, plötzlich, endlich , begreife ich. Übereinkunft … Übereinkunft. Warum habe ich nicht früher daran gedacht, nicht früher verstanden … ?
Was würdest du tun, um deinen Bruder zu rächen? , hallt eine Stimme in meinem Inneren wider, und ihr wissender Klang erinnert mich an verbrennende Bücher und Bibliotheken. Dann nur noch Schmerz, der mich verbrennt, der nichts z u rücklässt, der mich mit Haut und Haar, Knochen und Fleisch verzehrt. Ja , hat meine Gedankenstimme geschrien, ich würde alles tun, um meinen Bruder zu rächen! Alles!
Ich bin in derselben Lage wie mein Bruder wenige Monate vor seinem Tod. Was ich gesehen und erlebt habe, waren keine Halluzinationen. Das waren sie genauso wenig wie die Dinge, die Willem in seinem Tagebuch beschrieben hat.
Ich habe ich einen Pakt mit Costantini geschlossen. Genau, wie Willem es getan hat. Einen Pakt, in dem ich ihm Körper und Seele ausgeliefert habe, damit er mir hilft, Antwo r ten auf die Fragen zu finden, die mich quälen. Es ist in Beaucaire g e schehen, als ich dem Mann namens Costanzo – Costa n tini – in die Augen blickte. Er war es, genauso wie er jener merkwürd i ge Besucher Roussillons ist, von dem der Wirt mir erzählt hat. Er ist präsent in meinen Träumen und Visionen. Unauslösc h lich.
Er verfolgt mich, und vielleicht wird er mich in den Wah n sinn treiben und dann töten, wie er es mit meinem Bruder gemacht hat.
Obwohl die Erkenntnis ein Blitzschlag ist, habe ich keine Angst. Stattdessen ist da nur eine dumpfe Leere und Taubheit, eine unbekannte Leblosigkeit in meinem Inneren. Ich bin mit großen Schritten meinen Weg gegangen, ohne zurückzubl i cken. Nun begreife ich, dass ich bereits zu weit gegangen bin. Frédéric hatte r echt : Ich hätte umkehren sollen, solange ich noch dazu in der Lage war. Nun ist es zu spät, ich bin Costa n tini ausgeliefert, ich kann das Geschehene nicht rüc k gängig machen. Ich werde dem Weg weiterhin folgen müssen, und er wird mich zu den Antworten führen, nach denen ich suche, und anschließend in den Untergang.
Ja, das wird er. Du wirst mir folgen, und wir werden uns finden, und dann wird deine wunderschöne Seele nicht mehr Frédéric, sondern mir gehören.
Meine Hände klammern sich an den rauen Stamm einer P i nie, ich lege die Stirn auf das Holz. Schnee stäubt auf mein Haar und meine Hände, ohne dass
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