Léonide (German Edition)
Gesicht.
Der Wind ist verstummt, die Schneeflocken scheinen in der klirrenden Luft zu verharren. Das Blut tropft von meinen Fi n gern in den Schnee und wird gierig von ihm aufgesogen.
Lass mich nicht zu lange warten, Léonide.
Irgendetwas in mir sträubt sich, das spüre ich, auch, wenn ich nicht weiß, was es ist. Mein Kopf fühlt sich angenehm leer an, meine Gedanken schwimmen durch zähen Nebel. Nichts ist mehr von Bedeutung. Warum bin ich überhaupt hier? Ich habe es vergessen, obgleich ich weiß, dass es mir früher einmal äußerst wichtig erschienen ist. In einem anderen Leben, einer anderen Zeit.
Die Gewissheit bricht sich in ermüdenden Wellen an meiner Schädeldecke und erfüllt mich mit störender Unruhe. Ich ve r suche, sie abzuschütteln, wie man eine lästige Aufgabe zu ve r drängen versucht. Erfolglos.
Vor meinem Auge blitzt ein Bild auf, für den Bruchteil einer Sekunde nur und doch lang genug. Das Bild zeigt einen Mann – meinen Bruder, begreife ich –, der ausgestreckt auf dem Dielenboden liegt und um dessen Kopf sich eine rote Lache ausbreitet.
Das Messer fällt mir aus der Hand und landet im Schnee. Das Wissen um alles, was geschehen ist und was ich verges sen zu haben glaubte, sickert in meinen Verstand zurück, ein Rin n sal, das sich langsam zu einer Flutwelle verdichtet. Ich weiß, ich muss fliehen, sofort.
Du willst es nicht tun, Léonide? Warum nicht? Ich bitte dich, tu es für mich.
Costantinis Hand verschwindet von meinem Oberarm und legt sich stattdessen auf meine Hüfte. Entsetzt registriere ich, wie er mich enger an sich zieht, bis ich jeden Zentimeter se i nes schmalen, jungenhaften Körpers auf meinem spüre. Seine Finger wandern über die zerkratzte Haut meines Gesichts und verharren auf meiner Unterlippe. Als er sich wieder von mir löst, glänzt ein Tropfen meines eigenen Bluts auf der Spitze seines Zeigefingers. Seine Bewegungen sind schnell, schneller, als sie sein dürften, und doch sehe ich, wie seine Zunge aus dem Mund stößt und das Blut vom Finger leckt.
Wieder seine Stimme in meinem Kopf, meinen Gedanken: Wie du willst. Aber vergiss nicht, was ich dir gesagt habe, Léonide: Fr ü her oder später wirst du mir gehören, und dann erwarte ich mehr von dir als nur einen Tropfen deines Herzbluts.
Als sich Costantini von mir abwendet, strömt die Luft in meine Lungen zurück. Doch dann, urplötzlich, packt er mich erneut, hält mich im Nacken fest und zwingt meinen Kopf zur Seite.
Weißes, zartes Fleisch … Ah, wie ich mich schon darauf freue, d a von zu kosten.
Costantinis Finger pressen sich schmerzhaft auf meine Ke h le. Als ich mich wehre, graben seine Finger tiefer, s o dass ich die scharfen Spitzen seiner Fingernägel in meinem Fleisch spüre.
»Léo?«
Obwohl außer Costantini niemand in der Nähe zu sehen ist, ist die Stimme irritierend nah an meinem Ohr. Ich kenne ihn, diesen warmen Tonfall, in den sich ein Anflug von Angst g e schlichen hat. Angst um mich .
Der Schmerz, der mich ausgehend von meiner Kehle durc h fährt, ist ein scharfer, eisiger Splitter unter meiner Haut. Ich spüre, wie seine Spitzen mich von innen zerreißen, sehe, wie der Schnee vor meinen Augen zu flimmern beginnt. Ich sinke in die Knie, Costantini hält mich fest, obwohl ich mich lieber, viel lieber in den weichen Schnee legen würde. Ich würge, von meinen Lippen tropft Blut. Es breitet sich aus wie eine Blüte, die ihre Blätter öffnet. Wunderschön.
»Nehmen Sie Ihre Hände weg«, flüstere ich und versuche noch einmal, mich von Costantini loszureißen – ohne Erfolg.
»Léo, was ist mit dir?«
In meinem Inneren regt sich etwas – nein, es protestiert. Die Stimme bringt einen verborgenen Teil von mir zum Klingen, ich sehe wieder klarer. Costantini zieht meinen Kopf zu sich heran, ich begegne seinem Basiliskenblick. Er lächelt. Es ist ein merkwürdiges Lächeln, eines, das seine Mundwinkel blutig und zerrissen aussehen lässt. Die schwielige Wunde breitet sich so schnell auf seinem Gesicht aus, dass ich ihrem Lauf kaum folgen kann. Schließlich hat sich das Netz aus Narben über sein ganzes Gesicht gelegt. Seine kühle Schönheit ist b i zarrer, mitleiderregender Hässlichkeit gewichen.
Ich bitte dich, Léonide, denk an unsere Übereinkunft … Vergiss nicht unsere Übereinkunft … Mein Körper ist alt und schwach, und ohne dich muss ich sterben.
In diesem Augenblick zerbricht Costantinis Gesicht wie das Glas eines Spiegels. In der Ferne verhallt ein lang
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