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Léonide (German Edition)

Léonide (German Edition)

Titel: Léonide (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Schaefer
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gezogener Schrei. Die Splitter rieseln zu Boden, werden zu Staub, den der dunkle Wind davonträgt. Costantinis Mantel fällt in den Schnee und liegt innerhalb weniger Sekunden unter einer D e cke aus frischem Schnee begraben.
    Vor mir steht Frédéric, die Augen glasig. Zwischen seinen Lippen dringen Rauchwölkchen hervor, abgehackt, unb e herrscht. Er packt meine Oberarme. »Was passiert hier?« Er schüttelt mich, doch ich kann seine Hände kaum spüren. »Was passiert mit dir?«
    Seine Augen brennen; er sieht aus wie ein Wahnsinniger, fast, nur fast, und er schnaubt, als müsste er die Wut, die sich in ihm aufgestaut hat, mit seinem Atem ausstoßen.
    Als er meinen verwirrten, resignierten Gesichtsausdruck bemerkt, lässt er von mir ab. Seine rastlosen Schritte knirschen im Schnee, er greift sich ins Haar und beugt seinen angstgel a denen Körper.
    »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Wie ich dir helfen soll.« Die Worte fließen wie mürber Zigarettenrauch über seine Lippen. Schneeflocken haben sich in seinem Haar und seinen Wi m pern verfangen und flüstern m ir etwas ins Ohr. Sein Blick ist eine Berührung. Ich mache einen Schritt, dann noch einen. Meine Hand tastet nach Frédérics.
    Haut auf Haut. Schnee und ein Gefühl von Wärme, das von mir Besitz ergreift. Ein Schatten, der sich über all meine Äng s te legt, eingehüllt in einen weißen Schleier aus Stille.
     
    Mein Gesicht ist weder verletzt noch blutverschmiert. Keine Kratzer, keine Blutstropfen. Ich drehe d en Kopf zur Seite, betrachte mein Spiegelbild aus dem Augenwinkel. Nichts. Als wäre nichts davon wirklich passiert; als hätte ich mir alles nur eingebildet.
    Hast du das denn nicht auch? , fragt Costantini mich in Geda n ken und lacht.
    Frédéric kommt von hinten auf mich zu. Seine Hände legen sich um meine Taille, ich erstarre. Es fühlt sich vertraut, aber nicht richtig an – eher wie die kalten, fordernden Hände Costantinis.
    Ich drehe mich zu ihm um und schiebe ihn von mir. Nie werde ich den Ausdruck vergessen, der sich in diesem Auge n blick in seinem Gesicht zeigt. Es dauert nur den Bruchteil e i ner Sekunde und doch reicht es aus, um etwas in mir zum U mstürzen zu bringen. Er sieht so verletzt aus, etwas, wofür ich verantwortlich bin.
    »Lass mir Zeit.«
    Frédéric schluckt schwer, ehe er nickt.
    Schweigend packen wir den Rest unserer Habe zusammen. Jede Minute, ohne dass Frédéric etwas sagt oder mich a n sieht, fühlt sich leer und zerrissen an. Als hätte ich die Erinn e rung an einen Menschen, der mir einmal lieb und teuer war, bis aufs Letzte ausgelöscht.
    Er nimmt mich nicht einmal mehr wahr .
    Ich gehe zum Bett und taste mit fahrigen Fingern nach Wi l lems Tagebuch, das ich dort abgelegt habe, ehe ich zum Wirt hinuntergegangen bin, und bemerke verärgert, dass es nicht mehr dort liegt. Hat Frédéric es bereits eingepackt? Warum hat er mir dann nichts gesagt?
    Ich werfe ihm einen zögerlichen Blick zu, unsicher, ob ich etwas sagen soll. Es fühlt sich wie Angst an, Angst davor, wie er auf meine Worte reagieren könnte. Ich habe ihn schon ei n mal verletzt, will nie wieder für seinen Schmerz verantwortlich sein. Lieber noch sage ich mich von ihm los und lasse ihn g e hen.
    Aber , denke ich im nächsten Augenblick, ist nicht genau das Liebe? Jemanden gehen lassen zu können, auch wenn sich alles in einem dagegen sträubt und jeder Schritt, den man sich von der geliebten Person entfernt, sich wie ein Messer in die Brust bohrt?
    »Frédéric.« Ich gehe um das Bett herum und lege eine Hand auf seinen Arm. Er blickt nicht auf, das Schlimmste daran ist, dass ich es ihm nicht einmal verdenken kann. Ich schließe die Augen. Rühre mich nicht. Hoffe, dass ich mich auflösen und mit dem Wind davonfliegen kann, wenn ich nur leise genug bin. Oder dass mein Körper zu Stein, meine Gebeine zu Fe l sen werden wie Echos, nachdem der schöne Narziss sie ve r schmäht hat. Wie sie will auch ich nur noch Stimme sein.
    »Was ist, Léonide?«
    Ich öffne die Augen und begegne seinem starren, beinahe leblosen Blick. Léonide, n icht Léo. Denn Léo, die bin ich nicht mehr – zumindest nicht für ihn.
    »Hast du Willems Tagebuch gesehen?«, frage ich.
    Frédérics Augen wandern zu seinem Gepäck. Er greift nach einem Notizbuch und steckt es zusammen mit einem Füllf e derhalter in seine Reisetasche.
    »Ich kann es nicht finden«, sage ich.
    Als Frédéric endlich den Blick hebt, bin ich so erleichtert, dass ich aufatme. Erst jetzt fällt mir

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