Léonide (German Edition)
regenden Sud. Von der Decke tropft Wasser, die Tapete wirft bereits schmutzige Blasen.
Die Franzosenkrankheit hat bereits deutliche Spuren auf Camilles Körper hinterlassen. Sie hat hohes Fieber und stöhnt vor Schmerz auf, als ich sie auf die Seite drehe, um auch den Rest ihres Körpers zu unte r suchen. Als ich beginne, sie auszuziehen, öffnet Edmond protestierend den Mund, entschließt sich dann aber, nichts zu sagen. Vermutlich ist er zu dem Schluss gekommen, dass ich ohnehin schon jeden Teil von Camille gesehen habe.
Meine Hände tasten über geschundene Haut. Die Papeln haben sich bereits in den Hautfalten eingenistet, Camilles Lymphknoten sind g e schwollen. Als ich sie wieder zudecke und mich aufrichte, bemerke ich, dass ganze Büschel ihres hellblonden Haares ausgefallen sind. Seku n därstadium.
Noch etwas anderes fällt mir auf, allerdings etwas, das nichts mit den Symptomen der Syphilis zu tun hat. Zuvor hat Edmond mir berichtet, dass Camille sich ständig erbricht. Mit wachsender Angst bemerke ich die leichte Erhebung ihres Bauches und beuge mich erneut hinab, um die Wölbung abzutasten. Camille stöhnt im Schlaf auf, Speichel tropft aus ihrem Mundwinkel. Schwanger . Camille ist schwanger – im fünften M o nat, nehme ich an, und auch nur erkennbar, weil sie so dünn und knochig ist. Ihr Gesicht ist schmal geworden, so schmal.
Ist es möglich … ? Nein, daran sollte ich gar nicht denken. Ich weiß inzwischen, dass Camille sich nie etwas aus den Regeln des Anstands g e macht hat. Ich war nicht ihr erster Mann.
Ich richte mich auf, desinfiziere mir die Finger.
Jeder könnte der Vater dieses Kindes sein …
»Sie befindet sich im zweiten Stadium. Vielleicht kann ich ihr helfen.«
Edmond stößt erleichtert die Luft aus. »Ich danke dir.«
Es missfällt mir, dass er mich duzt . Ich tue das hier nicht für ihn, so n dern für Camille. Ich ertrage es nicht, dass er mit mir spricht wie mit einem Verbündeten, einem Leidensgefährten, einem alten Freund.
»Da ist noch etwas«, sage ich langsam. »Camille ist schwanger.«
Auf Edmonds Gesicht erscheint so etwas wie ein Lächeln, ehe sich ein Schatten vor seine Augen schiebt. »Wie lange schon?«
»Seit ungefähr fünf Monaten.« Ich weiß, woran er denkt. Hinter se i nen Augen beginnt es zu arbeiten, zu zählen. Fünfter Monat . Jeder könnte der Vater sein. Er, ich … oder ein anderer, von dem wir nichts wissen.
»Das Kind … Ich befürchte, die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass es b e reits jetzt die Krankheit in sich trägt.« Ich spreche nicht weiter, schätze Edmond als klug genug ein, um zu wissen, dass damit die Gefahr einer Totgeburt besteht, sollte es mir nicht gelingen, Camille erfolgreich zu b e handeln.
Edmond schluckt, sagt aber nichts. In seinen Augen sehe ich eine pan i sche, beinahe hysterische Verzweiflung. Ich beginne zu begreifen, dass dieser Mann alles für Camille tun würde, dass er für sie sterben würde, wenn er sie und ihr Kind damit vor dem Tod bewahren könnte. Und ich begreife, dass ich sie nie geliebt habe, sondern nur eine Projektion, eine Spiegelung, die nichts mit ihr und i hrer Persönlichkeit zu tun hat .
Etwas Schweres legt sich über mich. Ein bleiernes Gewicht, das mich niederdrückt und meine Gedanken und Gefühle träge werden lässt. Ich habe nie geliebt. Ich weiß nichts von der Liebe.
Als ich den Blick von Edmond abwende, um ihm Zeit für sich zu g e ben, finden meine Augen Camilles. Sie sind weit aufgerissen. Ihr Gesicht spiegelt zuerst Begreifen, dann Todesangst wider.
»Schwanger … aber … mein Kind … « Ihre schmalen Hände tasten über ihren Bauch, ihren Lippen entweicht ein Keuchen.
Ich gebe Camille ein fiebersenkendes und beruhigendes Mittel. Schon bald ist sie eingeschlafen. Ich flöße ihr eine Abkochung aus der Rinde und dem Holz des Guajakbaumes ein und verordne ihr eine Fastenkur und Schwitzbäder. Edmond hört mir geduldig zu, als ich ihn ermahne, die Laken zu waschen und das Zimmer sauber zu halten . Ich verspreche ihm, in ein paar Tagen zurückzukehren, um nach ihr zu s e hen. Dann verlasse ich das Haus, atme wie ein Ertrinkender die rege n nasse Luft ein.
Ich ahne nicht, dass ich Camille gerade zum letzten Mal lebend ges e hen habe.
»Du weißt nicht, ob das Kind von dir war?«
Frédéric wischt sich über die Augen und atmet in langen Zügen. »Nein, aber das ist auch nicht von Bedeutung. Nicht mehr. Camille nahm sich das Leben, nur einen Tag nach me i ner Untersuchung.
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