Leopard
Telefon zurück in die Tasche.
»Wer?«
»Tony Leike.«
TEIL VI
KAPITEL 51
Brief
Hallo. Tony,
du fragst dich schon lange, wer ich sein könnte, und es ist deshalb wohl an der Zeit, dass ich mich zu erkennen gebe. Ich war in dieser Nacht in der Hävasshütte, aber du hast mich nicht gesehen. Niemand hat mich gesehen, ich war unsichtbar wie ein Geist. Aber du kennst mich. Kennst mich besser, als dir lieb ist. Und jetzt komme ich, um dich zu holen. Nur du könntest mich noch stoppen. Alle anderen sind tot. Jetzt gibt es nur noch dich und mich, Tony. Schlägt dein Herz ein bisschen schneller? Greift deine Hand nach dem Messer? Stichst du blind ins Dunkel, schwindelig vor Angst, weil dir dein Leben genommen werden soll?
KAPITEL 52
Besuch
E r schrak aus dem Schlaf hoch. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Ein Laut. Aber hier draußen gab es keine fremden Laute, keine, die er nicht kannte und von denen er wach wurde. Er stand auf, stellte die Fußsohlen auf den kalten Boden und blickte durch das Fenster. Seine Landschaft. Es gab Leute, die sie als Einöde bezeichneten, was immer das heißen mochte. Denn öde war es hier nie, es gab immer irgendetwas. Wie jetzt. Ein Tier? Oder war er das? Der Geist? Auf jeden Fall war da draußen etwas, so viel war sicher. Er blickte zur Tür. Sie war von innen mit Schloss und Riegel gesichert. Die Flinte stand draußen im Vorratshaus. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, obwohl er das dicke, rote Flanellhemd trug, das er nicht einmal nachts auszog. Es war leer im Raum. So leer wie dort draußen. Wie in der ganzen Welt. Aber nicht öde. Es gab noch sie beide, sie beide waren noch übrig.
Harry träumte. Von einem Fahrstuhl mit Zähnen, einer Frau mit einem Cocktailstäbchen zwischen cochenilleroten Lippen, einem Clown, der seinen eigenen, lachenden Kopf unter dem Arm trug, einer weißen Braut mit einem Schneemann vorm Altar, einem Stern im Staub eines Fernsehbildschirms, einem einarmigen jungen Mädchen auf einem Sprungbrett in Bangkok, dem süßlichen Duft von Urinsteinen, den Umrissen eines menschlichen Körpers, der sich unter dem blauen Plastik eines Wasserbetts abzeichnete, einem Kompressorbohrer und von Blut, das ihm warm und todbringend ins Gesicht spritzte. Der Alkohol hatte sonst immer wie Kreuz, Knoblauch und Weihwasser die Gespenster vertrieben, doch in dieser Vollmondnacht war Jungfrauenblut geflossen, und sie waren aus den dunkelsten Winkeln und tiefsten Gräbern hervorgekrochen und stießen ihn tanzend immer wilder zwischen sich hin und her, angetrieben von dem rhythmischen, vor Todesangst immer schnelleren Klopfen seines Herzens und dem Feueralarm, der unaufhörlich durch die Hölle schrillte. Plötzlich war es still. Vollkommen still. Es war wieder da. Füllte wieder seinen Mund. Er konnte nicht atmen. Es war kalt und stockfinster, er konnte sich nicht bewegen, und … Harry zuckte zusammen und blinzelte verwirrt ins Dunkel. Ein Echo hing noch zwischen den Wänden des Raumes. Aber welcher Laut hatte dieses Echo hervorgerufen? Er nahm den Revolver, der auf dem Nachtschränkchen lag, stellte die Fußsohlen auf den kalten Boden und ging die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Leer. Das Licht in dem leeren Barschrank brannte noch immer. Eine einsame Flasche Martell hatte dort gestanden. Sein Vater war mit Alkohol immer vorsichtig gewesen, da er nur zu gut wusste, welche Gene in ihm steckten, und so war diese Flasche Cognac nur für Besucher gedacht gewesen. Wenn er auch nicht oft Besuch bekommen hatte. Die staubige, halbleere Flasche war im Kielwasser von Kapitän Jim Beam und Matrose Harry Hole gefolgt. Harry setzte sich in den Sessel und bohrte mit dem Finger in dem Loch des Armlehnenbezugs. Er schloss die Augen und sah vor sich, wie er sich das Glas halb vollgoss. Hörte das tiefe Glucksen der Flasche, sah das Schimmern der goldbraunen Flüssigkeit. Der Duft, das Zittern, als er das Glas an die Lippen führte, und die fast panische Gegenwehr seines Körpers. Dann kippte er sich den Inhalt des Glases in den Mund.
Es war wie ein Schlag gegen die Schläfe.
Harry riss die Augen auf. Es war wieder vollkommen still.
Und gleich darauf war er wieder da. Der Feueralarm der Hölle. Das Geräusch, das ihn geweckt hatte. Die Türklingel. Harry blickte auf die Uhr. Halb eins.
Er ging auf den Flur, schaltete das Außenlicht ein und entdeckte hinter dem rauen Glas der Tür ein Profil. Mit der rechten Hand umklammerte er den Revolver, während er mit Daumen und Zeigefinger der
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