Leopard
sprach.«
»Zu dem Schluss bin ich auch gekommen. Aber was meinst du, war das eine Vergewaltigung?«
»Hört sich ja ein bisschen so an. Er hat ihr die Hand auf den Mund gelegt, ihre Rufe erstickt und sie dann ins Klohäuschen gezogen. Was sollte das sonst sein?«
»Und warum hat Elias Skog es dann nicht gleich für eine Vergewaltigung gehalten?«
»Ich weiß nicht. Wegen ihrer Körpersprache … der Art, wie sie beieinanderstanden.«
»Genau. Das Unterbewusstsein fasst manchmal mehr auf als der Kopf. Er hat das so eindeutig für freiwilligen Sex gehalten, dass er sich einfach wieder schlafen gelegt hat. Erst lange danach, als er von den Morden gelesen hat, ist ihm diese fast vergessene Szene wieder in den Sinn gekommen. Und da kam ihm die Idee, dass es auch eine Vergewaltigung gewesen sein könnte.«
»Ein Spiel«, sagte Kaja. »Das wie Vergewaltigung aussieht. Wer macht so was? Doch nicht ein Mann und eine Frau, die sich gerade erst in einer Touristenhütte begegnet sind und nach draußen gehen, um sich zu beschnuppern.«
»Also sind sie sich früher schon mal begegnet«, sagte Harry. »Und dabei kann es sich, soweit wir wissen, nur um …«
»Adele und den Unbekannten handeln. Den siebten Mann.«
»Wenn nicht nachts noch andere Gäste angekommen sind.« Harry schnippte die Asche von seiner Zigarette. »Das Klo?«, fragte Kaja. »Auf dem Flur, letzte Tür links.«
Er beobachtete den Zigarettenqualm, der sich nach oben unter den Lampenschirm über dem Tisch schraubte. Wartete. Er hörte die Tür nicht, erhob sich und ging ihr nach.
Sie stand im Flur und starrte auf die Tür. Im Halbdunkel konnte er sie schlucken sehen, dann blitzte ein nasser, spitzer Zahn auf. Er legte seine Hand ganz oben auf ihren Rücken und spürte durch ihre Kleidung das Klopfen ihres Herzens. »Ist es okay, wenn ich sie für dich aufmache?«
»Du musst mich für verrückt halten«, sagte sie.
»Das sind wir doch alle. Ich mache jetzt auf, in Ordnung?«
Sie nickte, und er öffnete.
Harry saß am Küchentisch, als sie zurückkam. Sie trug ihren Regenmantel. »Ich sollte jetzt nach Hause gehen.«
Harry nickte und begleitete sie zur Tür. Beobachtete sie, als sie sich bückte, um ihre Stiefel anzuziehen. »Das passiert nur, wenn ich müde bin«, sagte sie, »das mit den Türen.«
»Ich weiß«, sagte Harry. »Mir geht es so mit Fahrstühlen.«
»Oh?«
»Ja.«
»Erzähl.«
»Ein anderes Mal, vielleicht. Wer weiß, vielleicht sehen wir uns ja wieder.«
Sie wurde still. Brauchte lang für die Reißverschlüsse ihrer Stiefel. Dann richtete sie sich abrupt auf und stand so dicht vor ihm, dass er ihren Duft wie ein Echo wahrnahm.
»Erzähl es mir jetzt«, sagte sie mit einer Wildheit im Blick, die er nicht zu deuten wusste.
»Nun«, sagte er und spürte seine Fingerkuppen kribbeln, als wären seine Hände kalt gewesen und würden erst jetzt wieder richtig durchblutet. »Als wir klein waren, hatte meine Schwester sehr lange Haare. Wir hatten unsere Mutter im Krankenhaus besucht und wollten mit dem Fahrstuhl nach unten fahren. Vater wartete draußen, er mochte keine Krankenhäuser. Sos stand zu nah davor, so dass sich ihre Haare zwischen Fahrstuhl und Wand verfingen. Ich konnte mich vor Entsetzen nicht rühren. Hab nur erstarrt zugesehen, wie sie an den Haaren hochgezogen wurde.«
»Wie ist das ausgegangen?«, fragte sie.
Sie standen viel zu dicht voreinander, dachte er. Hatten ihre gegenseitigen Grenzen überschritten. Und waren sich dessen bewusst. Er holte tief Luft.
»Sie hat einige Haare verloren. Sie sind nachgewachsen. Aber ich … ich habe etwas verloren. Das ist nicht wieder nachgewachsen.«
»Du glaubst, du hast versagt?«
»Das ist eine Tatsache.«
»Wie alt warst du?«
»Alt genug, um zu versagen.« Er lächelte. »Das ist langsam genug Selbstmitleid für eine Nacht, findest du nicht? Meinem Vater hat es übrigens gefallen, dass du einen Knicks gemacht hast.«
Er machte einen großen Schritt zur Seite und öffnete ihr die Tür. »Gute Nacht.«
Sie trat auf die Treppe hinaus und drehte sich noch einmal um.
»Harry?«
»Ja?«
»Warst du in Hongkong nicht einsam?«
»Einsam?«
»Ich habe dich beobachtet, als du geschlafen hast. Du sahst so … einsam aus.«
»Doch«, sagte er. »Ich war einsam. Gute Nscht.«
Sie blieben eine halbe Sekunde zu lange stehen. Fünf Zehntelsekunden weniger, und sie wäre auf dem Weg nach unten gewesen und er in Richtung Küche gegangen.
Ihre Finger legten sich um seinen Nacken
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