Leopard
Er spürte den Schlag nicht einmal. Ihm wurde nur für eine selige Sekunde schwarz vor Augen. Dann war er zurück in der Schmerzhölle.
»Die ist tot!«, brüllte der Mann. »Lass dir was Besseres einfallen.«
»Ich meine die andere.« Er erinnerte sich doch, hatte ein gutes Gedächtnis, warum ließ es ihn jetzt im Stich? War er wirklich so schwer verletzt. »Sie kommt aus Australien …«
»Du lügst!«
Seine Augen fielen zu. Eine neue Wasserdusche. Ein Augenblick der Klarheit.
Die Stimme: »Wer? Wieso?«
»Töte mich! Gnade! Ich … Du weißt, dass ich niemanden beschütze. Herrgott, warum sollte ich?«
»Ich weiß gar nichts.«
»Warum bringst du mich nicht einfach um? Ich hab sie umgebracht. Hörst du? Tu es! Die Rache gehört dir.«
Der Mann stellte den Eimer ab, ließ sich auf den Sessel fallen, lehnte sich nach vorn, die Ellenbogen auf die Armlehnen und das Kinn auf die Fäuste gestützt, und sagte ganz langsam, als hätte er nicht zugehört und wäre mit seinen Gedanken ganz woanders: »Weißt du, von diesem Augenblick habe ich so viele Jahre geträumt. Und jetzt, jetzt sind wir hier … Ich hatte gehofft, es würde besser schmecken.«
Der Mann schlug ihn noch einmal mit dem Feuerhaken. Legte den Kopf schräg und musterte ihn. Dann stach er ihm mit mürrischer Miene prüfend mit der Spitze in die Seite.
»Vielleicht mangelt es mir ja an Phantasie? Vielleicht fehlt diesem Gericht ja die richtige Würze?«
Irgendetwas veranlasste den Mann, sich umzudrehen. Zum Radio, das leise lief.
Er stand auf und stellte es lauter. Nachrichten. Stimmen in einem großen Raum. Die etwas über die Håvasshütte sagten. Eine Zeugin. Rekonstruieren. Er fror schrecklich, spürte seine Beine nicht mehr. Er schloss die Augen und betete zu seinem Gott. Nicht, dass er ihn von seinen Schmerzen befreite, wie er es bis jetzt getan hatte. Er bat um Vergebung, dass Jesu Blut ihn von allen Sünden sauber wusch und jemand anders seine Sünden auf sich nahm. Er hatte Leben genommen. Ja, das hatte er. Er betete. Wollte im Blut der Vergebung baden. Und dann sterben.
KAPITEL 56
Lockvogel
E ine Hölle aus Licht. Selbst mit Sonnenbrille brannten Harrys Augen. Es war, wie in ein Meer aus Diamanten zu schauen, frenetisch funkelndes Licht, Sonne auf Schnee, der wiederum die Sonne anstrahlte. Harry wich vom Fenster zurück, obgleich er wusste, dass die Scheiben von außen schwarz und undurchsichtig waren wie Spiegel. Er blickte auf die Uhr. Sie waren mitten in der Nacht in der Håvasshütte angekommen. Jussi Kolkka hatte sich gemeinsam mit Harry und Kaja in der Hütte eingerichtet, während sich die anderen in Vierergrüppchen an den jeweiligen Seiten des Tals, etwa drei Kilometer voneinander entfernt, in den Schnee eingegraben hatten.
Aus drei Gründen hatten sie ihren Köder in der Håvasshütte ausgelegt. Zum einen, weil ihr Aufenthalt dort glaubwürdig war, zum anderen, weil sie hofften, dass der Täter sich dort so gut auskannte, dass er sich sicher genug fühlte zuzuschlagen. Und zum Dritten, weil der Ort die perfekte Falle war. Die Senke, in der die Hütte lag, war nur von Nordosten oder Süden erreichbar. Die Felswände im Osten waren zu steil, und im Westen war der Boden von so vielen Klüften und Spalten durchzogen, dass man sich sehr gut auskennen musste, wollte man sich hier zurechtfinden.
Harry hob das Fernglas und versuchte, die anderen zu erkennen, sah aber nur Weiß. Und Licht. Er hatte mit Mikael Bellman gesprochen, der im Süden auf der Lauer lag, und mit Milano im Norden. Normalerweise hätten sie ihre Handys benutzt, aber hier oben in dem unbewohnten Gebirge war nur das Telenor-Netz verfügbar. Das ehemals staatliche Telefonmonopol hatte seinerzeit über genügend Kapital verfügt, um auf jedem noch so isolierten Berg eine Basisstation zu errichten, aber da einige der Polizisten, darunter auch Harry, mit den inzwischen aufgekommenen anderen Telefongesellschaften Verträge hatten, benutzten sie Walkie-Talkies. Damit er erreichbar war, falls im Reichshospital etwas geschah, hatte er eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen, dass er außerhalb des Sendegebietes sei, man ihm aber über Milanos Telenoranschluss eine Nachricht zukommen lassen könne.
Bellman behauptete, in der Nacht nicht gefroren zu haben, die Kombination aus Schlafsack, wärmereflektierender Isomatte und Paraffinöfen sei so effektiv, dass sie sogar leichtere Kleider hätten anziehen können. Und dass Schmelzwasser von der
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