Leopard
Gerede über die Bühne gegangen, sogar Kaja war still gewesen. Konzentriert.
Im Spiegelbild des Fensters sah er Kolkka die Waffe zusammensetzen, sie anheben, auf seinen Hinterkopf zielen und einen trockenen Schuss abfeuern. Harry hoffte, dass der Täter sich beeilte.
Als Bjørn Holm die hellblaue Krankenhauskleidung aus Adeles Garderobenschrank nahm, spürte er Geir Bruuns Blick im Rücken. Er stand in der Tür.
»Können Sie nicht gleich alles mitnehmen?«, fragte Bruun. »Dann muss ich das nicht wegwerfen. Wo ist eigentlich Ihr Kollege, dieser Harry?«
»Der ist auf einer Skitour in den Bergen«, sagte Holm geduldig und steckte jedes Kleidungsstück separat in die dafür vorgesehenen Plastiktüten.
»Ach ja? Interessant, er hat auf mich gar nicht wie ein Skifahrer gewirkt. Wo ist er denn?«
»Das kann ich nicht sagen. Apropos Ski, wissen Sie noch, was Adele getragen hat, als sie in der Håvasshütte war? Ich kann hier gar keine Skiklamotten entdecken.«
»Die hat sie sich natürlich von mir geliehen.«
»Sie hat sich die Kleider von Ihnen geliehen?«
»Warum überrascht Sie das?«
»Sie wirken auf mich gar nicht wie ein … Skifahrer.« Holm bemerkte, dass sich seine Worte tendenziöser anhörten als beabsichtigt. Sein Nacken wurde heiß.
Bruun lachte leise und machte im Türrahmen so etwas wie Tanzschritte. »Richtig, ich bin eher ein … Kleidermensch.«
Holm räusperte sich und gab seiner Stimme – ohne dass er wusste, warum – einen tieferen Klang. »Darf ich mal einen Blick darauf werfen?«
»Uih, ja, also«, lispelte Bruun und schien sich über Holms sichtliches Unbehagen zu amüsieren. »Kommen Sie, dann schauen wir mal.«
»Halb fünf«, sagte Kaja und reichte Harry zum zweiten Mal den Topf mit Labskaus. Ihre Hände berührten sich nicht. Ebenso wenig ihre Blicke oder Worte. Ihre gemeinsame Nacht in Oppsal war so fern wie ein zwei Tage alter Traum. »Laut Drehbuch sollte ich jetzt auf der Südseite der Hütte stehen und eine Zigarette rauchen.«
Harry nickte und reichte den Topf an Kolkka weiter, der ihn auskratzte und dann begann, seinen Teller leer zu schaufeln.
»Okay«, sagte Harry. »Kolkka, gehen Sie ans Westfenster? Die Sonne steht jetzt tief, halten Sie nach Lichtreflexen Ausschau, in Ferngläsern zum Beispiel.«
»Erst wenn ich gegessen habe«, sagte Kolkka langsam und mit Nachdruck und schob sich noch eine vollbeladene Gabel in den Mund.
Harry zog die Augenbrauen hoch, blickte zu Kaja und signalisierte ihr zu gehen. Als sie draußen vor der Tür war, setzte Harry sich ans Fenster und ließ seinen Blick über die Vidda und den Bergkamm schweifen. »Dann hat Bellman Sie also angestellt, weil niemand sonst Sie haben wollte?« Er sprach leise, aber die Stille im Raum war so kompakt, dass er ebenso gut hätte flüstern können.
Ein paar Sekunden vergingen ohne Antwort. Harry vermutete, dass Kolkka erst einmal verdauen musste, auf so etwas Persönliches von Harry angesprochen zu werden.
»Ich weiß, welches Gerücht die Runde machte, nachdem Sie bei Europol rausgeflogen sind. Sie sollen während eines Verhörs einen vorbestraften Vergewaltiger zusammengeschlagen haben. Das ist doch richtig, oder?«
»Das ist meine Sache«, brummte Kolkka und führte die Gabel zum Mund. »Kann aber schon stimmen, dass er mir nicht den angemessenen Respekt gezollt hat.«
»Hm. Das Interessante ist nur, dass Europol dieses Gerücht selbst in Umlauf gebracht hat. Um freie Hand zu haben, und sicher auch zu Ihrem Schutz, nehme ich an. Und natürlich ist das so auch besser für die Eltern und den Anwalt des Mädchens, das Sie verhört haben.«
Harry hörte, dass Kolkka zu kauen aufhörte.
»So konnte man ihnen still und heimlich eine Entschädigung zahlen, ohne Europol vor den Kadi zu zerren. Und auch dem Mädchen blieb es so erspart, im Zeugenstand bis ins kleinste Detail darüber zu berichten, wie es war, als Sie sie in ihrem Zimmer über ihre vergewaltigte Freundin befragt haben. Die Antworten des Mädchens haben Sie so erregt, dass Sie begonnen haben, sie anzufassen. Laut Europols internen Notizen war sie erst fünfzehn Jahre alt.«
Harry hörte Kolkka schwer atmen.
»Gehen wir mal davon aus, dass Bellman diese Notizen kannte«, fuhr Harry fort. »Er kann sie sich über Kontaktpersonen und gewisse Umwege beschafft haben. Wie ich. Vermutlich hat er eine Weile gewartet, bevor er mit Ihnen Kontakt aufgenommen hat. Bis Ihre Wut verflogen und Sie wieder auf dem Boden waren. Und dann hat er
Weitere Kostenlose Bücher