Ler-Trilogie 02 - Die Zan-Spieler
aufdrängte, es beherrschte. Er spürte plötzliche Panik, nackte Angst, Wahnsinn, ein leidenschaftliches Verlangen, dieses Netz aus Multisprache zu durchbrechen und schreiend in die Nacht hinauszulaufen. Aber es war zu spät. Er hatte Empathie und Zusammenspiel mit Krisshantem erreicht mittels des ziellosen kleinen Gesangs derer, die vergessen haben, und es gab kein Entkommen, kein Weglaufen, kein Ausweichen. Sie waren jetzt geistig nicht mehr vollkommen getrennt.
Morlendens Erinnerung flackerte auf, war verschwunden, war nie dagewesen. An ihrer Stelle war nichts. Die Vision begann sofort. Zuerst war sie undeutlich und verschwommen, aber irgendwie auch bestimmt. Im einen Augenblick war sie nicht dagewesen; im nächsten war sie dann doch vorhanden, als sei sie schon die ganze Zeit über dagewesen, klar wie seine eigene Erinnerung und eigenartig plastisch. Er konnte sehen, wie sie aus dem verschwommenen Nichts heraus Gestalt annahm, aber noch konnte er weder sie noch irgendeines ihrer Teile direkt „ansehen“. Rasch begann sich das verschwommene und undeutliche Bild aufzuhellen, schärfer zu werden, es begannen sich Einzelheiten abzuzeichnen. Der Kontrast wurde stärker. Verschwommene Stellen und Schatten nahmen Formen an. Die Rasterung wurde vollkommener. Das holistische Muster eines Multisprachenbildes war in der Entstehung begriffen, formte sich wie ein Hologramm; während des Prozesses wurde ein in zwei Dimensionen vollständiges Bild geschaffen mitsamt der angedeuteten Dimensionalität der Parallaxe, genau wie Kris es ursprünglich gesehen und erinnert hatte. Das Bild war nicht aus Linien und Punkten aufgebaut; der Zeitfaktor wachte darüber, wie klar es wurde, so wie der Raum bei einem Hologramm wirkte. Je mehr Morlenden empfing, um so klarer wurde es und um so deutlicher konnte er es sehen. Der Druck von dem Willen außerhalb seiner selbst verstärkte sich.
Jetzt war sie deutlich genug zu sehen … es war ein Mädchen, hier, an diesem Ort, in diesem Baumhaus, das in einem Sonnenstrahl saß, der durchs Fenster gekommen war … das herzlich lächelte und fast nackt war, mit seitlich unter der Hüfte verschränkten Beinen, zu ihm hingewandt. Sie trug das dhwef, einen langschößigen, bestickten, lendentuchähnlichen Streifen, der an den schmalen Hüften von einem Holzperlengürtel gehalten wurde. Ihr Körper war leicht gedreht, ihre linke Seite wies zu ihm. Es war im Sommer gewesen; zum Beispiel der flache Farbton des Lichts, das auf ihren Körper fiel, der warme, sonnengebräunte Farbton ihrer Haut. Das Bild wurde heller und klarer. Das also war Maellenkleth, die Erst-Spielerin, die verschollen war. Sie stimmte sehr genau mit den Worten überein, die er zu ihrer Beschreibung gehört hatte, aber in diesem Falle wie auch in allen anderen hatten die Worte nicht sehr genau mit der Wirklichkeit übereingestimmt. Sie war sehr schön – Morlenden, der jetzt mit den Augen seines eigenen Gedächtnisses sah, fühlte, wie sich sein Herzschlag ein wenig beschleunigte, als er sich der Tage seiner eigenen Jugend erinnerte, wie sie wohl damals auf ihn gewirkt hätte, als er ein Jüngling war, wie er wohl auf sie reagiert hätte. Sie war außergewöhnlich und wunderschön, zur Hälfte wegen des makellosen, straffen Körpers, der schlank und kräftig war, und zur Hälfte wegen des starken Willens, der ihn beseelte und diese anmutigen Glieder mit Leben und Tatkraft erfüllte.
Jetzt besaß Morlenden eine lebendige Erinnerung an das Mädchen, in eben diesem Bild, das mit Krisshantems eigener Erinnerung an sie identisch war. Es war so detailliert, daß er einen winzigen Leberfleck unter ihrer linken Brust sehen-erinnern konnte, ein leichtes Glänzen von Schweiß auf ihrer Stirn, ihrem Schlüsselbein, einen weichen, jugendlichen Flaum auf der Haut an ihren Knöcheln, eine verheilte Schramme am Knie. Ihr Gesicht verengte sich nach unten hin zu einem feingebauten, zierlichen Kinn. Ihre Nase war klein, schmal, ihre Lippen waren weich, nicht ganz voll, leicht gespitzt. Ihre Augen waren klar, nicht tiefliegend, offen im Ausdruck. In jeder einzelnen Bewegung, die hier auf halbem Wege gebremst worden war, lag Bestimmtheit und Unschuld, aber um ihren Mund lag auch ein süßes, offenes Lächeln. Bezaubernd … Morlenden fühlte sich sowohl als Voyeur wie auch als Einbrecher, obwohl ihm dies geschenkt wurde, denn nun würde er für immer die Erinnerung an dieses Lächeln mit sich tragen, seine leichte, jugendliche Verlegenheit und scheue
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