Lerchenherzen
harschigen Schnees zu einem anhaltenden lauten Scharren wird, bis sie an den Straßengraben kommt und auf die Straße springt. Die ist bis auf eine dünne Frosthaut über dem rotbraunen Sand frei.
Hinter sich hört sie, daß ein Pferd durch die Kurve trabt, und plötzlich weiß sie, daß sie unbedingt zu Hause in dem kleinen Dreieck zwischen Kellereingang und der Haustür ankommen muß, ehe das Pferd an der Gartenpforte ist. Sie weiß nicht warum, hat nur eine schwache Ahnung, daß alles davon abhängt, ob sie es schafft. Wenn es ihrgelingt, ist Mutter nicht tot. Wenn es ihr gelingt, sitzt der Vater auf dem Sofa und liest die Zeitung, wie immer um diese Zeit.
Und sie rennt wie ein Reh, das vor Schrecken wie von Sinnen ist, der Laut der näherkommenden Pferdehufe hämmert ihr in den Ohren. Sie kommt zur Pforte, reißt sie auf und stürmt den Gartenweg hinauf und über den Hofplatz, während sich der Ton ihrer Füße mit dem Hämmern der Pferdehufe und dem wilden Rhythmus des Herzens zu einem einzigen Brausen in ihren Ohren mischt. Sie umrundet die Hausecke, saust an der Küchentür vorbei und wirft sich in das Dreieck hinter dem Kellereingang, während das Pferd draußen auf der Straße vorübertrabt. Und sie sinkt erschöpft zusammen und weiß, sie hat es geschafft.
Aber inmitten dieses sinnlosen Spurts steht da wie ein anderer Teil von ihr etwas und betrachtet das Ganze von außen mit fragendem Blick und einem lächelnden »Warum?«, auf das sie keine Antwort weiß. Sie zieht die Fäustlinge aus, streicht sich das schweißnasse Haar aus der Stirn und geht hinein.
Auf dem Flur begegnet sie dem Vater. Er schaut sie mit einem Ausdruck neugieriger Erwartung an, so, wie sie ihn am liebsten hat, weil er dann wie ein kleiner Junge aussieht.
»Hast du das Fohlen gesehen, Sol?«
»Das Fohlen?«
»Ja, das kleine Fohlen, das mit seiner Mutter eben auf der Straße vorbeilief. Hast du es nicht gesehen?«
Er hebt sie hoch und trägt sie mit ihren matschigen Winterstiefeln zum Wohnzimmerfenster, wo sie gerade rechtzeitig kommen, um einen letzten Blick auf ein kleines Fohlen zu erhaschen, das mit einem erwachsenen Pferd und einem Wagen über den Hügel verschwindet.
Sol wird von etwas gepackt, das zwischen Lachen und Weinen liegt. Wenn sie am Straßenrand angehalten hätte, statt loszurennen, würde das Fohlen direkt an ihr vorübergetänzelt sein. Vielleicht wäre es einen Augenblick stehengeblieben und hätte sein weiches Maul in ihre Hand gestreckt: Hast du etwas für mich? Eine Kartoffel? Oder einen Apfel? Die glänzenden Augen sekundenlang fragend in ihre gesenkt, ehe das Wiehern der Mutter es zur Besinnung kommen, vielleicht den Kopf heben ließe und ein bißchen hilflos zurückzuwiehern, ehe es sich mit einem Satz herumwerfen und hinter ihr herlaufen würde.
Stell dir vor, sie wäre nicht gerannt. Stell dir vor … aber dann … Sie kann den Gedankenreihen nicht länger folgen. Sie legt dem Vater einfach die Arme um den Hals, als er sie zurück zum Flur trägt. Er schaut sie ein wenig verwundert an, als er ihr aus den matschigen Stiefeln hilft.
»Mußt nicht böse sein, Sol«, sagt er und fährtfort, während er ihr geheimnisvoll zublinzelt: »Mutter kocht zum Abendessen Kakao!«
Solfrid hängt ihre Jacke an den Garderobenhaken und läuft in die Küche, wo die Mutter steht und Milch in den Kakao rührt. Der Teller und ihre Kindertasse stehen schon an ihrem Platz am Tisch. Sie erklärt laut, daß sie drei Scheiben Brot haben will – und jede Menge Kakao! Die Mutter dreht sich um und lächelt.
39
Wer nach Rønnigen will, dorthin, wo Ragnhild aufgewachsen ist, muß bei der Milchrampe von Harriet Lund rechts abbiegen, dann hinunter bis zur Weggabelung der Straße folgen, durch die Kurve, an der das rote Häuschen von Lisabeth liegt, über die Brücke unten in der Niederung und über Bjørnebærbakken, den Hügel, wo die Jugendlichen im Winter Schlitten fahren oder im Sommer Bing-bang-Blechbüchse spielen.
Nein, natürlich nicht auf der Straße, sondern in dem kleinen Gehölz. Im Sommer liegt dort im Straßengraben stets ein Jungenfahrrad oder mehrere, oben bei dem Brombeerdickicht, das dem Hügel seinen Namen gab.
Und derjenige, der anhält, hört nur das sachte Brausen des Flusses und das Lied der Singdrossel, die gleich dort drüben in der Birke ihr Nest hat. Man kann sich fragen, was sie dort treiben, die Jungen, bis man eine Jungen- oder Mädchenstimme rufen hört: Bing-bang Solfrid! Bing-bang Hallvard! Oder
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