Lerchenherzen
seither: Die Holzbohlen der Treppe, die warm sind vom Sonnenschein, als sie die Hand darauf legt. Die Hühner, die im Hühnerstall gackern. Die Mutter, die in der Küche leise vor sich hin summt. Sie klingt gleichzeitig weit entfernt und nah und vertraut. Und eine Stimmung von Frieden und unbekümmerter Kindheit, aber gleichzeitig eine sonderbare, leise Wehmut, als ob sie wüßte, das nun etwas unwiderruflich vorbei ist.
Ein feierliches Gefühl wie an einem Festtag läßt sie seither glauben, daß es ein Sonntag gewesen sein muß, obwohl es wahrscheinlich nicht so war, weil sie deutlich zu wissen meint, daß der Vater bei der Arbeit war. Es dauert nur einen Augenblick und ist vermutlich das erste Mal, daß sie sich an eine Stimmung erinnert.
Der Rest der Erinnerung ist Handlung. Sie beugt sich über die Treppenstufe, spürt deren Kante an ihrem runden Bauch und ruft: »Mutter, ich muß mal!« Und die Mutter ist augenblicklich in der Türöffnung zu sehen, warm und fröhlich, das schwarze Haar hat sie schon damals zu einem Knoten im Nacken zusammengefaßt. Sol wird sie nie mit einer anderen Frisur sehen als dieser, abgesehen von den Nächten, wo das lange Haar wie ein Vogelflügel über Solfrids Wange streift, wennsich die Mutter im Halbdunkel über ihr Bett beugt, um die bösen Träume zu verscheuchen.
»Oh!« ruft die Mutter voller Anteilnahme in der Stimme über diese wichtige Angelegenheit, »du bist ja doch meine Große!«
Und Solfrid dreht sich um und rennt vorneweg über die Holzplanken, die der Vater auf dem matschigen Weg zum Klo ausgelegt hat, während die Mutter hinterherläuft. Halb über das Kind gebeugt, klatscht sie im Takt in die Hände und singt »Beeil dich, beeil dich, beeil dich!«.
Vermutlich handelt es sich um eine Zeremonie, die sie schon viele Male vorher durchgespielt haben. Oder vielleicht ist es das erste Mal, daß sie draußen auf dem Klo sitzt und nicht auf dem Töpfchen. – Das ist ein wichtiger Schritt im Leben eines Menschen.
Sie erinnert sich, daß die Mutter neben ihr sitzt und sie gut festhält, damit sie nicht in das große Loch fällt – sie haben in dem winzigen Klo kein Loch für Kinder, nur ein großes. Sie erinnert sich, wie sie dasteht und die Mutter ihr mit einem Stück Zeitungspapier, das sie vorher lange in den Händen geknüllt hat, damit es weich ist, den Po trocknet, und daß die Mutter sie auf dem Arm zur Küchentreppe zurückträgt, während sie lauthals die geglückte Expedition lobt.
Nachdem die Mutter ihr einen Keks gegeben hat – weil das so gut geklappt hat –, geht Solfridzurück zum Sandkasten. Sie setzt sich neben den grünen Blecheimer, der halb voll Sand ist, und beißt klitzekleine Stückchen von dem mürben, goldbraunen Keks ab, während sie mit der freien Hand die blaue Schaufel packt und in den Sand steckt. Und hier endet ihre erste Erinnerung.
38
Nach einem langen Tag, an dem sie mit Nils-Jan gespielt hat, geht Solfrid über die Jakobsau nach Hause. Es ist zeitig im Frühjahr, das ungepflügte Land ist noch von einer dünnen Lage Schnee bedeckt, verharschter Schnee, der trocken unter den Stiefeln knirscht und an ein Pferd, das Heu kaut, erinnert. Die Häuser liegen in das sonderbare Licht der Dämmerung gehüllt, das Tag und Nacht voneinander trennt und das im Winter so ganz besonders schön ist, weil es in sich sowohl die Erinnerung an die Spiele des Tages birgt wie die Erwartung eines langen Abends zu Hause.
Solfrid spürt, daß sie dieses schwache Licht, die Häuser und alles um sich herum sehr gern hat. Sie spürt, wie die Müdigkeit als angenehme Schwere in die Beine kriecht, sieht das Küchenfenster von zu Hause wie einen vertrauten Stern funkeln und weiß, daß es heute abend Kakao geben wird. Und plötzlich sagt sie in den halbdunklen Abend hinein: » Heute kommt nie wieder.« Es kommt ihr erst wie eine spaßige Selbstverständlichkeit in den Sinn, als etwas, das sie ja immer gewußt hat. Da wird es ihr plötzlich unbegreiflich und wächst zur Beunruhigung an. Von allem, was nach jetzt kommt, wissen wir nichts.
Vielleicht ist die Mutter tot. Vielleicht sinkt sie in diesem Augenblick über dem Küchentisch zusammen, während der Kakao auf dem Herd zischend überkocht. Oder der Vater, vielleicht ist er vom Holzfällen nicht nach Hause gekommen, sondern liegt zwischen den Fichten, die Schneide der Axt tief im Bein.
Lieber Gott! Sie spürt, wie die Angst vom Körper Besitz ergreift, und rennt so, daß der knirschende Ton des
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