Lerchenherzen
hinüber nach Rønnigen und halfen dort bei der Arbeit auf dem Hof mit – oder gingen unserer Wege.
Ich erinnere mich, wie Tante Milda und die großen Mädchen an naßkalten Frühlingstagen mit rotgefrorenen, klammen Fingern über einem Berg Wäsche standen, die sie im Waschkessel gekocht hatten und dann im eiskalten Wasser am Flußufer spülten. Wie die kleine Karin jammerte, wenn die stechenden Frostschmerzen in den Fingerspitzen zu heftig wurden. Hin und wieder ließen ihre steifgefrorenen Finger einen Kopfkissenbezug oder ein kariertes Hemd los, das dann mit der Strömung wegsegelte und für uns Kleinen zu einer großen und spannenden Herausforderung wurde, weil wir mit langen Stecken am Flußufer versuchten,das Teil, ehe es versank, wieder aufzugabeln. Mildas erregte Stimme mischte sich mit dem wütenden Geschrei der Kinder, wenn dann einen von uns die eiskalte, nasse Hand von einem der größeren Mädchen im Nacken packte.
Wenn wir auf den Hof kamen, rannte häufig eines der größeren Mädchen auf uns zu, das uns in die Nase kniff oder in die Wange biß und uns so fest drückte, daß uns fast die Luft wegblieb. Sie waren mit ihren Liebkosungen so freigebig und so unsanft, daß Nils-Jan anfangs, wenn er dazukam, erschrak.
Wenn dann Tante Milda rotwangig in der Tür des Waschhauses erschien, bekamen wir frischgebackenes, duftendes Brot, das sie in dem großen Backofen gebacken hatte. Die Tante backt noch immer auf die alte Weise Brot, wenn auch inzwischen weniger als damals, da die Kinder alle aus dem Haus sind.
Ich werde dich an Backtagen nach Rønnigen mitnehmen, damit du den frischgebackenen Milda-Kuchen mit Zucker probieren kannst. Und sicher darfst du, genau wie ich früher, dir dein eigenes kleines Rosinenbrötchen backen, ein klitzekleines Brötchen, das du ganz allein geformt hast. Seinen Weg auf dem Backbrett, auf dem es zusammen mit den großen runden Kuchen sitzt, hinein in den Backofen wirst du mit wachsamen Augen verfolgen.
Wenn Mathilde zu Hause Brot backte, scheuchte sie uns immer weg. Milda hingegen hat immer Kinder um die Beine, egal, was sie tut – eigene und fremde.
Der kleine, verschreckte Nils-Jan durfte dicht bei ihr auf der Holzbank sitzen und ihre freigebige Mütterlichkeit einatmen, heimlich einen Zipfel ihrer geblümten Schürze in der Hand, während wir anderen uns auf den breiten rohen Holzplanken tummelten.
Nils-Jan fürchtete sich so, besonders in der ersten Zeit. Und er hatte Milda sehr gern. Gestern erzählte sie mir, daß er an seinem letzten Abend zu ihr ging und sich von ihr verabschiedete. Das wußte nicht einmal ich. Er war so ein lieber Junge, sagt Milda.
Ach, die langen sonnenglänzenden Kindertage in Rønnigen, die werden niemals wiederkommen, Klein Jakob. Ich kann dir nur wünschen, daß du genauso viele solcher Tage erleben wirst wie ich. Die Trauer um deinen Vater wirst du nie erleben, zum Glück. Daran zu denken ist beinahe tröstlich.
60
Nachdem ich dich bekommen habe, habe ich angefangen, an Nils-Jans richtige Mutter zu denken, an deine Großmutter. Ich hätte sie so gern gekannt. Wenn ich bedenke, daß sie das gleiche Verhältnis zu ihm hatte wie ich zu dir, ich glaube, dann kann man einer Schwiegermutter alles verzeihen. Sie hat ihn gewickelt und gefüttert, hat seine Tränen getrocknet, sich über das erste Lächeln gefreut, ist all das für ihn gewesen, was ich für dich bin.
Und dann wußte sie monatelang, daß sie vor ihm sterben würde, weggehen müßte von ihm, der niemanden hatte. Unmöglich, sich das vorzustellen – aber wenn sie nicht tot wäre, wäre Nils-Jan nicht hierhergekommen und du wärest nie entstanden.
In allem steckt ein Sinn, würde Mutter jetzt sagen, aber ich kann schwerlich einen höheren Sinn darin erkennen, wenn die Mutter eines fünfjährigen Jungen stirbt. Oder wenn ein junger Mann, der nicht einmal zwanzig ist, vor seinem ungeborenen Kind stirbt, fortgerissen wird von allen, die er gern hat. Ich sehe keinen Sinn im Tod, höchstens vielleicht, wenn er wie zu Mathilde zu jemandem kommt, der alt und verbittert ist.
Mathilde wurde so viel netter, als sie krank war.Lag so geduldig in ihrer Kammer, die linke Seite gelähmt und fast unfähig zu sprechen. Oft lag eine ihrer Katzen auf der Bettdecke. Mathildes rechte Hand tastete dann hilflos suchend umher, bis sie in dem langhaarigen Fell zur Ruhe kam.
Woran dachtest du, Mathilde, wenn deine runzlige Hand mit den braunen Leberflecken auf der dünnen, fast durchscheinenden Haut
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