Lerchenherzen
hätten wir gewohnt, du und ich und dein Vater, in einem eigenen Haus auf einem Grundstück, das ich vom alten Jakob als kleines Mädchen geschenkt bekommen hatte.
Damals wußte ich nicht, daß du schon auf deinem Platz warst in meinem Bauch, denn Mathilde gab mir so viel zu denken, und ich bemerkte gar nicht, daß ich über die Zeit war. Merkwürdig, sich vorzustellen, daß du schon da warst, ein winziges Leben, das noch nicht einmal begonnen hatte, mir dieses schreckliche morgendliche Erbrechen zu bescheren, unter dem ich in den ersten Monaten der Schwangerschaft so sehr litt.
Du kleiner Schuft hast mir ganz schön zugesetzt – aber es war die Beschwerden wert.
Ich wäre so unendlich glücklich gewesen, wenn alles so gekommen wäre, wie ich es mir vorstellte, als ich auf Mathilde aufpaßte und träumte. Nein, ich träumte nicht. Ich war sicher, daß mein Leben so verlaufen würde, mit Trauung im Juni und einem neuen Haus, noch ehe der Winter kommen würde. Und mit Nils-Jan, der zum ersten Mal seitmehreren Jahren nicht beim Walfang, sondern zu Hause sein würde. Er sollte bis zum Herbst auf die Landwirtschaftsschule gehen. Wie konnte mir das Leben so etwas antun! Wie konnte es ihm so etwas antun? Manchmal weiß ich nicht, was schwerer zu ertragen ist: ihn verloren zu haben oder die Trauer darüber, daß er nichts mehr erleben wird. Ich erinnere mich an seine übermütige Bewegung, als wir im letzten Sommer über die Au nach Hause gingen, während Mathilde noch auf ihrem Platz hier im Schaukelstuhl saß. Jedenfalls glaubten wir, sie säße hier. Wir sahen, wie die Gardine sich bewegte, und dachten uns unseren Teil, als wir Hand in Hand durch das taunasse Gras liefen. Dein Vater griff mich um die Taille und schwenkte mich in einem wilden Tanz herum, bis wir alle beide in das duftende, nächtlich feuchte Gras fielen.
Zu meinem: »Hör auf, Nils-Jan! Mathilde kann uns sehen!« lachte er nur – nicht boshaft, denn er hatte sie wirklich gern, nein, sein Lachen war neckend und unbekümmert.
»Laß sie's doch sehen. Mathilde war ja nie jung und verliebt!«
Und dann lachten wir beide über die absurde Vorstellung von einer jungen und verliebten Mathilde. Wir wußten ja nichts von ihrer Jugend, das wenige, was uns zu Ohren gekommen war, nahmen wir nicht ernst. Es war irgendwie undenkbar,daß Mathilde das gleiche erlebt haben sollte wie wir.
Wir lachten beim Gedanken daran, wie sie mit zusammengekniffenen Augen hinter der Gardine in ihrer Kammer stand, an ihren straffen Haarknoten, der vor Entrüstung beben konnte, wenn sie von anderen Jugendlichen berichtete. Nils-Jan ahmte ihre barsche Stimme nach, wenn sie das sonntägliche Frühstücksei köpfte – exakt vierundeinehalbe Minute gekocht, da war sie sehr genau – und eine harsche Bemerkung über diesen oder jene fallenließ, den sie am Abend zuvor über die Au hatte rennen sehen. Er schürzte die Lippen wie sie und sah so verschmitzt maliziös aus, daß ich laut auflachte.
»Du siehst ihr ähnlich, Nils-Jan, du ähnelst Mathilde! Du wirst mal genauso zimperlich und mürrisch wie sie, wenn du alt bist!«
Da lachte er gutmütig und antwortete: »Jaja, irgend jemandem muß ich ja ähneln. Mathilde ist vielleicht nicht das schlechteste.« Bei wenigen Gelegenheiten konnte ich anhand solcher Bemerkungen in seiner Stimme Bitterkeit ahnen. Dachte er an seinen Vater? Oder vemißte er manchmal seine Mutter? Ich fragte nie. Dachte wohl auch nicht daran, daß er nicht auf Ås geboren war. Noch ehe ich fünf Jahre alt wurde, war er ein Teil meines Lebens geworden, und er würde es für immer sein.
Das glaubten wir beide, als wir auf dem Rückenlagen und zu den Sternen schauten, die an dem immer heller werdenden Sommerhimmel verblaßten. Oft lagen wir da, bis es fünf Uhr geworden war und Nils-Jan direkt in den Viehstall mußte. Ob Ragnhild und Lars etwas von uns mitbekommen haben – gesagt haben sie es nie.
Und Mathilde klatschte nie über uns. Aus dem einen oder anderen Grund waren wir beide uns da ganz sicher.
62
Du kleiner Strolch hast uns die ganze Nacht hindurch wach gehalten. Das ganze Haus war bis früh auf den Beinen, und das allein deinetwegen. Nein, mein armer kleiner Liebling, deine Mutter ist ja selbst schuld. Ich war dumm und habe mich vergessen, und dein kleiner Bauch hat dafür büßen müssen.
Gestern sind wir beide, du und ich, fast den ganzen Tag draußen in der Sonne gewesen. Es ist richtig Sommer, mit Feld- und Wiesenblumen im Überfluß, es fehlen
Weitere Kostenlose Bücher