Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Ausschau. Er sah niemand. Offenbar war die Straße vollständig verödet. Allerdings konnte sich jemand hinter den Bäumen verborgen halten.
Er stieg die Treppe wieder hinauf.
»Komm, Cosette«, sagte er.
Er nahm sie bei der Hand und führte sie fort.
Viertes Buch
Jagd im Dunkeln, stumme Meute
Strategischer Zickzack
Jean Valjean verließ alsbald den Boulevard und bog in eine Seitenstraße ein; sooft er nur konnte, wählte er Seitenwege, ging auch manchmal ein Stück zurück, um sich zu überzeugen, daß er nicht verfolgt werde.
Dieses Manöver ist dem Hirsch, dem die Jäger auf den Fersen sind, eigentümlich. Zumal auf Strecken, wo die Fährte sich tief in den Boden einprägt, hat es den Vorzug, die Jäger und die Hunde zu täuschen. Man nennt diesen Schlich in der Jägersprache den »falschen Rückweg«. Es war eine Vollmondnacht. Jean Valjean fühlte sich durch diesen Umstand begünstigt. Der Mond stand noch tief am Horizont und schnitt scharfe Schatten in die Straßenfassade. Jean Valjean konnte im Dunkel an den Wänden entlang gleiten, zugleich aber die hellerleuchtete Gegenfront scharf beobachten. Vielleicht bedachte er nicht zur Genüge, daß ihm dermaßen die dunkle Seite entging. Als er aber in dem Straßengewirr rings um die Rue de Poliveau untergetaucht war, glaubte er gewiß zu sein, daß er nicht verfolgt werde.
Cosette lief neben ihm her, ohne Fragen zu stellen. Die Leiden, die sie in ihren ersten sechs Lebensjahren ausgestanden hatte, hatten zur Folge gehabt, daß sie einen passiven Charakter entwickelte. Sie hatte sich – ein Umstand, auf den wir noch des öfteren zurückkommen werden –, ohne es recht selbst zu bemerken, an die Schrullen ihres Beschützers und an die Launen des Schicksals gewöhnt. Auch fühlte sie sich in Sicherheit, wenn er nur bei ihr war.
Jean Valjean wußte ebensowenig wie Cosette, wohin dieser Weg ihn führte. Er legte sein Schicksal in Gottes Hand wie sie das ihre in seine. Ihm war, als ob auch er geführt werde wie sie; er glaubte ein unsichtbares Wesen zu fühlen, das ihn lenkte. Er hatte keinen festen Plan, keine klar umrissene Absicht. In diesem Augenblick war er noch nicht einmal fest überzeugt, daß er es mit Javert zu tun hatte, und wenn dieser Fremde auch wirklich Javert war, ob Javertihn erkannt habe. War er denn nicht verkleidet? Glaubte man ihn nicht tot?
Allerdings, seit einigen Tagen geschahen Dinge, die bedenklich schienen. Mehr war nicht nötig. Er hatte sich entschlossen, nie wieder in das Haus Gorbeau zurückzukehren. Wie ein Tier, das aus seinem Versteck aufgescheucht ist, suchte er zunächst ein Loch, in dem er sich verbergen könnte, und dachte, er würde später ein dauerhaftes Versteck finden.
Jean Valjean durchquerte im Zickzack das Quartier Mouffetard, das schon im Dunkel lag, als ob dort noch die Polizeiordnung des Mittelalters gälte. In strategischer Vorsicht kreuzte er zu mehreren Malen die Rue Zensier und die Rue Copeau, dann die Rue du Battoir-Saint-Victor und die Rue du Puits-l’Hermite. Es gibt in dieser Gegend Herbergen, aber er wollte in keine eintreten, denn er fand keine passende. Doch war er überzeugt, daß man, falls man ihm nachgegangen sein sollte, seine Spur längst verloren habe.
Als es elf Uhr schlug, ging er gerade die Rue de Pontoise entlang und kam an dem Polizeikommissariat vorbei, das in Nummer 14 untergebracht ist. Einige Sekunden später hieß ihn ein Instinkt sich umwenden. Im Schein der Laterne, die an dem Kommissariat angebracht war, konnte er drei Männer erkennen, die in diesem Augenblick der Reihe nach an dem Bureau vorbeikamen. Einer der drei trat in den Hauseingang. Der Mann, der an der Spitze marschierte, schien Valjean höchst verdächtig.
»Komm, Kind«, sagte er zu Cosette und beeilte sich, aus der Rue de Pontoise hinauszukommen. Er wählte wieder einen Umweg, umging die Passage des Patriarches, die zu dieser Nachtstunde schon gesperrt war, durchmaß die Rue de l’Epée de Bois und die Rue de l’Arbalète; endlich verschwand er in der Rue des Postes.
Es gibt dort an der Stelle, wo heute das Kolleg Rollin ist, an der Abzweigung der Rue Neuve Ste.-Geneviève eine Wegkreuzung. Der Mond schien grell herab. Jean Valjean trat in ein Haustor und bedachte, daß er die drei Leute, falls sie ihn noch verfolgen sollten, hier sehr gut erkennen würde, wenn sie auf den hellbeleuchteten Platz träten.
In der Tat vergingen keine drei Minuten, bis die Männer schon erschienen. Es waren jetzt ihrer vier, alles
Weitere Kostenlose Bücher