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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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nachdachte, bedauerte er, daß er den Mann nicht noch einmal angesprochen und dadurch gezwungen hatte, ein zweites Mal aufzublicken.
    Am nächsten Tage kehrte er bei einbrechender Dunkelheit wieder an jenen Platz zurück. Der Bettler war zur Stelle.
    »Guten Tag, Mann«, sagte Jean Valjean entschlossen und reichte ihm einen Sou.
    Der Bettler blickte auf und sagte mit kläglicher Stimme:
    »Danke, guter Herr!«
    Es war der alte Kirchendiener.
    Jean Valjean fühlte sich vollkommen beruhigt. Er begann zu lachen.
    »Wo, zum Teufel, glaubte ich nur diesen Javert zu sehen?« fragte er sich, »habe ich jetzt erst klare Augen?«
    Und er dachte nicht weiter darüber nach.
    Einige Tage später, an einem Abend – es mochte acht Uhr sein –saß er in seinem Zimmer und ließ Cosette mit lauter Stimme buchstabieren; da hörte er die Haustüre gehen. Das war sonderbar. Die Alte, die auch im Hause wohnte, pflegte bei Einbruch der Dunkelheit zu Bett zu gehen, um Licht zu sparen.
    Jean Valjean gab Cosette ein Zeichen, sie solle schweigen. Er hörte, wie jemand die Treppe hinaufstieg. Es konnte immerhin die Alte sein, die, von einem Unwohlsein betroffen, vielleicht zum Apotheker gegangen war. Er lauschte. Es waren schwere Tritte, die von einem Manne herzurühren schienen; aber die Alte trug plumpe Schuhe, und der Gang alter Frauen ist dem der Männer nicht unähnlich.
    Jean Valjean blies die Kerze aus. Er hieß Cosette ins Bett gehen und sagte leise: »Geh ganz still ins Bett, Kleine.« Während er sie auf die Stirn küßte, wurden die Schritte unhörbar. Jean Valjean blieb regungslos, den Rücken gegen die Tür, auf dem Stuhl sitzen, in der Dunkelheit hielt er den Atem an. Nach einiger Zeit wandte er sich, da er nichts hörte, geräuschlos um, und als sein Blick die Tür traf, sah er im Schlüsselloch Licht. Der Schein glich einem unheimlichen Stern in der Finsternis der Mauer. Offenbar stand da jemand mit der Kerze in der Hand hinter der Tür und horchte.
    Wieder vergingen Minuten. Jetzt verschwand das Licht. Doch waren keine Schritte zu vernehmen. Offenbar hatte der Unbekannte seine Schuhe ausgezogen.
    Jean Valjean legte sich angekleidet auf sein Bett und tat die ganze Nacht lang kein Auge zu.
    Als er gegen Morgen einzuschlummern begann, weckte ihn das Knarren einer Tür, die am Ende des Korridors zu einer Mansarde führte; wieder hörte er dieselben Schritte wie gestern abend. Sie näherten sich. Er sprang aus dem Bett und legte sein Auge an das Schlüsselloch, das ziemlich groß war; gewiß würde er im Vorübergehen den Fremden, der die Nacht in diesem Hause zugebracht und an der Türe gehorcht hatte, sehen können.
    Es war wirklich ein Mann. Diesmal ging er, ohne stehenzubleiben, an Jean Valjeans Tür vorüber. Im Korridor war es noch zu dunkel, man konnte das Gesicht nicht unterscheiden. Als der Mann aber auf den Treppenabsatz trat, fiel ein Lichtstrahl auf ihn und zeichnete scharf die Umrisse seiner Gestalt ab; Jean Valjean konnte den Rücken ganz überschauen. Der Fremde war hochgewachsen, trug einen langen Rock und einen starken Knüttel unter dem Arm. Der Stiernacken erinnerte an Javert.
    Jean Valjean hätte versuchen können, ihm durch das Fenster nachzusehen, aber dazu hätte er es öffnen müssen, und das wagte er nicht.
    Offenbar war der Fremde mit einem Schlüssel in das Haus gekommen, als ob es sein eigenes wäre. Wer hatte ihm den Schlüssel gegeben? Und was bedeutete das?
    Als die Alte um sieben Uhr morgens kam, um aufzuräumen, warf ihr Jean Valjean einen durchdringenden Blick zu, aber er fragte nichts. An der Frau war nichts Ungewöhnliches zu bemerken.
    Während sie fegte, fragte sie:
    »Hat der Herr nicht heute nacht jemand ins Haus gehen gehört?«
    Für dieses Alter und in jener Stadtgegend ist acht Uhr abends späte Nacht.
    »Richtig, ja«, antwortete er ganz unbefangen. »Wer war es denn?«
    »Unser neuer Mieter.«
    »Wie heißt er denn?«
    »Ich kann es nicht einmal genau sagen. Dumont oder Daumont. Ein gewöhnlicher Name.«
    »Und was ist dieser Herr Dumont?«
    Die Alte sah ihn tückisch an und antwortete:
    »Rentner, wie Sie.«
    Vielleicht meinte sie nichts damit, aber Jean Valjean mißtraute ihr. Als die Alte gegangen war, nahm er aus dem Schrank eine Hundertfrankenrolle und steckte sie in die Tasche. Obwohl er dabei recht vorsichtig zu Werke ging, fiel eine Münze zur Erde und rollte laut über den Boden.
    Als es dunkelte, stieg er die Treppe hinab und hielt nach beiden Seiten auf dem Boulevard

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