Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
der bereits seine Instruktionen erhalten hatte, öffnete die kleine Pforte, die für das Dienstpersonal bestimmt war und direkt vom Hof in den Garten führte. Er geleitete die drei in das Sprechzimmer, in dem Fauchelevent gestern die Aufträge der Priorin empfangen hatte.
Sie saß bereits, mit ihrem Rosenkranz in Händen, in einem Lehnstuhl und wartete. Eine der Mütter stand tief verschleiert neben ihr. Eine Kerze beleuchtete spärlich den Raum.
Die Priorin streifte Jean Valjean mit einem prüfenden Blick. Niemand sieht schärfer als Menschen, die immer ihren Blick gesenkt halten.
»Sie sind der Bruder?« fragte sie endlich.
»Ja, ehrwürdige Mutter«, antwortete Fauchelevent.
»Wie heißen Sie?«
Wieder antwortete Fauchelevent: »Ultime Fauchelevent.«
Er hatte wirklich einen Bruder gehabt, der Ultime hieß.
»Und von wo sind Sie?«
»Aus Picquigny bei Amiens«, antwortete Fauchelevent.
»Und wie alt sind Sie?«
Fauchelevent: »Fünfzig Jahre.«
»Und welchen Beruf üben Sie aus?«
Fauchelevent: »Gärtner.«
»Sind Sie ein guter Christ?«
Fauchelevent: »Wie alle in meiner Familie.«
»Und die Kleine gehört Ihnen?«
Fauchelevent: »Ja, ehrwürdige Mutter.«
»Sie sind ihr Vater?«
Fauchelevent: »Ihr Großvater.«
Die Mutter sagte leise zu der Priorin:
»Er antwortet gut.«
Allerdings hatte Jean Valjean noch kein Wort gesprochen.
Die Priorin sah Cosette aufmerksam an und bemerkte leise zu der Mutter:
»Sie wird häßlich werden.«
Diese Prognose bewies, daß Cosette gefallen hatte und einen Freiplatz im Pensionat bekommen würde.
Dann sprachen die beiden Nonnen noch einige Minuten in einer Ecke des Sprechzimmers, schließlich wandte sich die Priorin um:
»Vater Fauvent, Sie müssen einen zweiten Glockenriemen besorgen. Wir brauchen jetzt deren zwei.«
Dritter Teil
Marius
Erstes Buch
Der Großbürger
Der kleine Gavroche
Acht oder neun Jahre nach den Ereignissen, die im zweiten Teil dieser Geschichte berichtet wurden, konnte man auf dem Boulevard du Temple und im Gebiet des Château d’Eau einen kleinen Jungen von elf oder zwölf Jahren sehen, der ganz gut das Ideal des Pariser Straßenjungen hätte darstellen können, wenn er nicht trotz des Lächelns, das er immer auf den Lippen hatte, ein verdüstertes und leeres Herz gehabt hätte. Dieser Junge trug die Hose eines Mannes, aber er hatte sie nicht von seinem Vater; und das Hemd einer Frau, aber das hatte er nicht von seiner Mutter. Irgendwelche fremden Leute hatten ihn aus Mitleid so gekleidet.
Und doch hatte er Vater und Mutter. Aber sein Vater dachte nicht an ihn, und seine Mutter liebte ihn nicht. Er war einer jener beklagenswerten Knaben, die Vater und Mutter haben und doch Waisen sind.
Dieser Junge fühlte sich nur auf der Straße einigermaßen glücklich. Ihr Pflaster war nicht so hart wie das Herz seiner Mutter. Mit einem Fußtritt hatten seine Eltern ihn ins Leben hinausgestoßen.
Er war ein blasser, schwächlicher Junge, dabei aber widerstandsfähig, lebhaft, aufgeweckt. Immer auf den Beinen. Er sang und spielte, durchschnüffelte die Rinnsteine, hielt für sein Eigentum, was ihm in die Finger kam, aber nach Art der Katzen und der Spatzen, heiter und unbefangen; er lachte, wenn man ihn Lausbub, ärgerte sich, wenn man ihn Miststück nannte. Er hatte kein Obdach, kein Brot, kein Feuer, wurde von niemand geliebt; aber er war fröhlich, denn er war frei.
Wenn arme Geschöpfe dieser Art zu Männern heranwachsen, geraten sie fast immer mit der sozialen Ordnung in Konflikt und werden von ihr zermalmt; solange sie klein sind, entwinden sie sich dem Zugriff, flüchten in das kleinste Loch.
Aber so verlassen dieser Junge auch war, geschah es doch, wenn auch nur alle zwei oder drei Monate einmal, daß er sich sagte:Hallo, jetzt geh ich Mama besuchen! Dann verließ er den Boulevard, entfernte sich aus der Bannmeile des Zirkus und der Porte Saint-Martin, stieg zu den Quais hinab, überquerte die Brücken und spazierte durch die Vorstädte nach der Salpêtrière. Und wo landete er? In jenem Hause Nr. 50 bis 52, das der Leser schon kennt, in dem Hause Gorbeau.
Zu jener Zeit war das Haus Nr. 50 bis 52, das sonst leer stand und immer eine Tafel »Zimmer zu vermieten« aushängen hatte, seltsamerweise von mehreren Personen bewohnt, die übrigens, wie das in Paris der Brauch ist, untereinander keine Beziehungen pflegten. Sie alle gehörten jener Klasse der Armen an, die mit dem herabgekommenen Kleinbürger beginnt und bis zu den
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