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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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zumal ohne jede vernünftige Begründung. Widersprach man ihm, so hob er den Stock. Seine Dienstboten prügelte er nach der Sitte des großen Jahrhunderts. Er hatte eine Tochter von über vierzig Jahren, die unverheiratet geblieben war; die verdrosch er, wenn er in Wut geriet, und wenn es darauf angekommen wäre, hätte er sie am liebsten mit der Peitsche gezüchtigt. Für ihn war sie höchstens acht Jahre alt. Seine Lakaien ohrfeigte er und sagte zu ihnen: »Schweinehund!« Kein Fluch war ihm grob genug. Dabei war er von verwunderlicher Seelenruhe. Täglich ließ er sich von einem Barbier rasieren, der geisteskrank gewesen war und ihn verabscheute, weil er auf Gillenormand wegen seiner Frau, einer hübschen, jungen Barbiersfrau, eifersüchtig war. Herr Gillenormand bildete sich selbst etwas auf seine Nachlässigkeit ein und sagte, er lasse sich nicht einschüchtern. Oder:
    »Ich bin wirklich sehr scharfsinnig. Wenn mich ein Floh beißt, weiß ich, bei welchem Frauenzimmer ich ihn erwischt habe.«
    Seine Lieblingsausdrücke waren »der empfindsame Mann« und »die Natur«. Zumal diesem letzteren Wort verlieh er nicht jenen angenehmen Sinn, den unsere Zeit ihm beilegt. Aber wenn er am Kamin saß, äußerte er sich über sie etwa wie folgt:
    »Damit die Zivilisation an allem ihren Teil hat, sorgt die Natur dafür, daß die barbarischen Dinge uns in amüsanter Form dargeboten werden. Europa besitzt die Schätze Asiens und Afrikas in kleinerem Format. Die Katze ist der Salontiger, die Eidechse das Taschenkrokodil. Die Tänzerinnen von der Oper sind süße kleineKannibalen. Sie fressen zwar keine Menschen, aber sie saugen sie aus. Die reinsten Zauberinnen! Verwandeln unsereinen in eine Auster und schlürfen ihn aus zwischen zwei Schlucken Wein. Die Karaiben lassen nur die Knochen übrig, die Mädchen von der Oper nur den leeren Beutel.«
    Er wohnte im Marais, Rue des Filles Du Calvaire Nr. 6. Das Haus gehörte ihm. Es ist inzwischen abgerissen worden, und vielleicht hat das Grundstück heute sogar eine andere Nummer bekommen, da ja in den Pariser Straßen nichts beim alten bleiben durfte. Er selbst bewohnte ein altes, geräumiges Appartement im ersten Stock, es war bis zu den Plafonds mit großen Gobelins tapeziert, die Schäferszenen darstellten; und die gleichen Sujets wurden in kleinerem Format auf Stuhlbezügen wiederholt.
    Er hatte Sinn für Malerei. In seinem Zimmer hatte er ein herrliches Porträt eines Unbekannten, ein Werk des Jordaens, in großen, kühnen Pinselstrichen gemalt, zugleich aber überreich an köstlichen Details.
    Eine seiner Theorien lautete: Wenn ein Mann sehr hinter den Weibern her ist, sich aber aus seiner eigenen Frau nichts macht, weil sie häßlich ist, so gibt es für ihn nur ein einziges Mittel, seinen Frieden zu behalten: er überläßt seiner Frau die Verwaltung seines Vermögens. Dieses Opfer macht ihn frei. Jetzt ist die Frau beschäftigt, findet bald Geschmack an diesen Dingen, kümmert sich um die Pächter und Schuldner, berät sich mit den Anwälten, verhandelt mit dem Notar, keift mit den Schreibern, fühlt sich dabei als Herrin, kauft, verkauft, gewährt Zessionen, arrangiert alles, spart, verschwendet – kurz, sie macht Dummheiten, genießt aber das volle Glück persönlichen Lebens und findet darin ihren Trost. Ihr Mann verachtet sie, aber sie hat wenigstens die Genugtuung, ihn ruinieren zu dürfen.
    Gillenormand hatte diese Theorie selbst in die Praxis umgesetzt, und so war er zu seiner Geschichte gekommen. Denn seine zweite Frau hatte sein Vermögen so verwaltet, daß Gillenormand eines Tages, Witwer geworden, gerade noch fünfzehntausend Franken Rente behielt, von denen sogar drei Viertel nur Leibrenten waren. Er kränkte sich nicht darüber, denn um seine Erben kümmerte er sich nicht. Übrigens lebte er in einer Zeit, die wußte, was aus Erbschaften werden konnte, zum Beispiel, daß sie zum Nationaleigentum erklärt wurden.
    Sein Haus gehörte ja ihm. Er hielt sich zwei Bediente, »ein Mannsbild und ein Frauenzimmer«. Sooft er einen Dienstboten wechselte, gab er ihm einen neuen Namen. Die Männer nannte er nach ihrer Herkunft Nimois, Comptois, Poitevin, Picard. Sein letzter Diener war ein plumper, asthmatischer Kerl von fünfundfünfzig Jahren, der keine zwanzig Schritte laufen konnte, aber da er aus Bayonne war, nannte ihn Gillenormand Baske. Dagegen hießen alle seine weiblichen Dienstboten Nicolette. Eines Tages meldete sich bei ihm ein Ungetüm von Köchin, ein

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