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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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niedrigsten Stufen der sozialen Ordnung herabsteigt, bis zu jenen Leuten, die mit den Resten der Zivilisation ihr Wesen treiben, dem Straßenkehrer und dem Lumpensammler.
    Die Verwalterin aus der Zeit Jean Valjeans war gestorben und durch ein ganz ähnliches Geschöpf ersetzt worden. Irgendein Philosoph hat gesagt: An alten Weibern ist nie Mangel.
    Diese neue Alte hieß Frau Burgon und hatte in ihrem Leben kaum etwas Bemerkenswertes zu verzeichnen, von einer Dynastie von drei Papageien abgesehen, die der Reihe nach ihr Herz beherrscht hatten.
    Die Elendesten unter den Bewohnern des Gorbeauschen Hauses waren vier Leute, Vater, Mutter und zwei schon ziemlich erwachsene Töchter, die alle zusammen einen der dürftigen Räume, die der Leser schon kennt, bewohnten.
    Außer ihrer überaus drückenden Armut bot diese Familie nichts Bemerkenswertes. Der Vater hatte, als er das Zimmer mietete, gesagt, er heiße Jondrette. Etwas später aber, als er nämlich bereits eingezogen war (wofür die Vermieterin das Wort geprägt hatte: eingezogen ohne nichts), hatte er zu Frau Burgon gesagt:
    »Frau Soundso, wenn zufällig jemand kommt und nach einem Polen oder Italiener, oder gar nach einem Spanier fragt, so bin ich das.«
    Diese Familie war die des lustigen Barfüßers aus der Klasse der Straßenjungen. Wenn er in ihren Schoß zurückkehrte, fand er dort wohl große Not, aber, schlimmer noch, kein Lächeln; kalten Herd und kalte Herzen. Wenn er eintrat, fragte man ihn:
    »Woher kommst du?«
    »Von der Straße«, antwortete er.
    Und wenn er ging, fragte man ihn: »Wohin gehst du?«
    »Auf die Straße.«
    Seine Mutter fragte ihn wohl auch:
    »Was willst du nur hier?«
    Der Junge ertrug diesen Mangel an Gefühl wie Kellerpflanzen die Dunkelheit. Er begriff davon nichts, litt nicht darunter und war nicht böse darüber.
    Allerdings liebte seine Mutter seine Schwestern.
    Wir vergaßen zu sagen, daß der Bube auf dem Boulevard du Temple der kleine Gavroche genannt wurde. Warum Gavroche? Vielleicht weil sein Vater Jondrette hieß.
    Alle Bande lösen, ist in gewissen verelendeten Familien fast ein Instinkt. Die Stube der Jondrettes war die letzte am Korridor. Den Nachbarraum bewohnte ein sehr armer junger Mann, der sich Herr Marius nennen ließ.
    Unser Leser wird bald erfahren, wer dieser Herr Marius war.
Dreiundneunzig Jahre und zweiunddreißig Zähne
    In der Rue Boucherard, in der Rue de Normandie und in der Rue de Saintonge gibt es noch alte Leute, die sich eines gewissen Herrn Gillenormand erinnern und gern von ihm erzählen. Dieser Mann war alt, als sie noch jung waren. Seine Silhouette ist für jene, die melancholisch in das Reich der Schatten (wie wir gerne die Vergangenheit nennen) zurückblicken, noch nicht ganz verschwunden aus dem Labyrinth der Gäßchen rings um den Temple, die unter Ludwig XIV. die Namen aller französischen Provinzen trugen, so wie man heute die Straßen im Quartier Tivoli – sicheres Zeichen des Fortschritts – nach den europäischen Hauptstädten nennt.
    Herr Gillenormand, der sogar noch 1831 lebte, zählte zu jenen Menschen, die nur wegen ihres phantastischen Alters, und weil sie bereits bei Lebzeiten einer vergangenen Epoche anzugehören scheinen, merkwürdig sind. Er war ein sonderbarer Alter, wirklich ein Mensch aus einer anderen Zeit, der vollendete Typus des etwas überheblichen Großbürgers aus dem achtzehnten Jahrhundert, aus jener Zeit, da die gute alte Bourgeoisie auf ihren Stand ebenso stolz war wie die Grafen auf den ihren. Er war schon über neunzig Jahrealt, ging aufrecht, sprach laut, sah klar, trank tüchtig, aß, schlief, schnarchte. Noch hatte er seine zweiunddreißig Zähne. Nur zum Lesen setzte er Brillen auf. Noch immer war er lüstern, aber er sagte, daß er schon seit zehn Jahren vollends den Frauen entsagt habe. Er konnte, sagte er, nicht mehr gefallen. Nicht, weil er zu alt war, aber weil er nicht die nötigen Mittel besaß. »Wenn ich nicht ruiniert wäre … oho!«
    In der Tat war ihm nur eine Rente von fünfzehntausend Franken jährlich verblieben. Sein Traum war, eine Erbschaft von hunderttausend Franken Jahresertrag zu machen und sich Mätressen anzuschaffen. Kurz, er zählte nicht zu jenen gebrechlichen Achtzigjährigen, die, wie Voltaire, ihr ganzes Leben im Sterben lagen, er war nicht einer jener angebrochenen Töpfe, die gerade darum alt werden; immer hatte er sich gut gefühlt. Er war oberflächlich, rasch von Entschluß, heftig. Bei jeder Kleinigkeit geriet er in Wut,

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