Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
will sterben. Wenn du diese Zeilen liest, wird meine Seele bei dir sein und dir zulächeln.«
Er faltete das Blatt zusammen, griff nach dem Portefeuille und schrieb auf das erste Blatt:
»Ich heiße Marius Pontmercy. Man bringe meinen Leichnam zu meinem Großvater, Herrn Gillenormand, Rue des Filles-du-Calvaire Nr. 6.«
Dann steckte er das Portefeuille in die Tasche und rief Gavroche.
»Willst du mir einen Dienst tun?«
»Jeden beliebigen.«
»Nimm diesen Brief, verlasse sofort die Barrikade und bring ihn morgen früh an seine Adresse.«
»Aber inzwischen kann die Barrikade verlorengehen!«
»Allem Anschein nach wird die Barrikade heute nicht mehr angegriffen. Vor morgen mittag wird sie auch nicht fallen.«
In der Tat schienen die Belagerer denen in der Barrikade eine längere Frist zu geben. Solche Unterbrechungen sind im Straßenkampf bei Nacht üblich.
»Wenn ich aber Ihren Brief morgen früh besorge?«
»Das wird zu spät sein. Wir werden gewiß umstellt, morgen früh kann keiner mehr heraus noch herein. Geh gleich.«
Gavroche fand keine Antwort und kratzte sich unschlüssig hinterm Ohr. Plötzlich schien er mit sich einig zu werden.
»Gut«, sagte er.
Und er lief zur Rue Mondétour.
Ein Gedanke, den er nicht geäußert hatte, um nicht Marius’ Widerspruch zu erregen, hatte seinen Entschluß reifen lassen. Es war noch nicht Mitternacht. Die Rue de l’Homme Armé war nicht weit. Er konnte den Brief bestellen und noch im Schutz der Dunkelheit zurückkehren.
Elftes Buch
Die Rue de l’Homme Armé
Das verräterische Löschblatt
Am Abend desselben 5. Juni war Jean Valjean mit Cosette und Toussaint nach der Rue de l’Homme Armé verzogen.
Cosette hatte das Haus in der Rue Plumet nicht widerstandslos verlassen. Zum erstenmal hatte sie ihren Willen dem Jean Valjeans entgegengesetzt, hatte sich nicht gewehrt, aber widersprochen. Doch war der Greis unbeugsam geblieben. Der Rat eines Unbekannten, er solle umziehen, hatte tief auf ihn gewirkt. Cosette mußte sich seinem Willen unterwerfen.
Beide waren schweigend in der Rue de l’Homme Armé eingezogen, jeder von besonderen Gedanken in Anspruch genommen. Jean Valjean war so unruhig, daß er die Traurigkeit Cosettes nicht bemerkte, Cosette so traurig, daß sie Jean Valjeans Unruhe nicht gewahrte.
Die neue Wohnung in der Rue de l’Homme Armé lag in einem Hinterhof, im zweiten Stock, und bestand aus zwei Schlafzimmern, einem Speisezimmer, einer Küche und einer Kammer mit einem Gurtbett für Toussaint. Das Speisezimmer diente zugleich als Vorraum und trennte die beiden Schlafzimmer.
Kaum war Jean Valjean in der Rue de l’Homme Armé eingezogen, als seine Angst wich. Übrigens haben stille Aufenthaltsorte die Eigentümlichkeit, den Geist mechanisch zu beruhigen. Die Einwohner dieser entlegenen Straßen sind friedliche Leute.
Jean Valjean atmete auf. Wer würde ihn hier wiederfinden?
Er schlief ruhig. Die Nacht ist eine gute Ratgeberin und zumal eine Bringerin des Friedens. Am nächsten Morgen erwachte er fast heiter. Er fand das scheußlich eingerichtete Speisezimmer entzückend, rühmte den runden Tisch, das Büfett mit dem Spiegel und den wurmstichigen Lehnstuhl, auf den Toussaint einige Gepäckstücke gelegt hatte. In einem der Koffer lag Jean Valjeans Nationalgardistenuniform.
Cosette hatte sich von Toussaint eine Tasse Bouillon bringen lassenund war am Abend nicht mehr erschienen. Gegen fünf Uhr des nächsten Tages erhielt Toussaint den Auftrag, ein Huhn anzurichten, das Cosette aus Teilnahme für ihren Vater sogar prüfte. Dann schützte sie Migräne vor, sagte Jean Valjean gute Nacht und zog sich zurück. Jean Valjean aß mit Appetit und gewann sichtlich seine Ruhe und Heiterkeit wieder.
Während dieser Mahlzeit hörte er die Berichte Toussaints über die Kämpfe in Paris. Aber er war so sehr mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, daß er nicht hinhörte.
Während er so im Zimmer auf und ab ging, fiel sein Blick auf etwas Sonderbares. In dem schrägen Spiegel über dem Büfett las er folgende Worte:
»Mein Geliebter, ach, Vater will, daß wir sofort abreisen. Heute abend werden wir nach der Rue de l’Homme Armé Nr. 7 übersiedeln. In acht Tagen sind wir in London.
4. Juni
Cosette.«
Entsetzt blieb Jean Valjean stehen.
Cosette hatte, als sie in die neue Wohnung kam, ihre Schreibmappe mit dem Löschblatt auf das Büfett gelegt und in ihrem Kummer hier liegenlassen, ohne zu bemerken, daß das Löschpapier unter den Spiegel
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