Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
zu liegen kam. Auf dem Blatt war ihr Brief an Marius abgedrückt.
So entstand, was man in der Geometrie ein symmetrisches Bild nennt. Die Schrift, schon auf dem Löschblatt verkehrt, wurde in dem Spiegel in ihre ursprüngliche Form zurückreflektiert.
Der Tatbestand war einfach und doch niederschmetternd.
Jean Valjean las noch einmal die wenigen Zeilen durch, konnte es nicht fassen. Das war unmöglich – er war offenbar das Opfer einer Sinnestäuschung. Etwas Derartiges gab es nicht.
Allmählich wurde es ihm klar. Er sah das Löschpapier an und gewann wieder den Sinn für die Wirklichkeit. Fieberhaft betrachtete er das unverständliche und bizarre Gekritzel, diese sinnlosen Zeichen. Das bedeutet nichts, dachte er, das ist keine Schrift. Und er atmete erleichtert auf. Wer kennt nicht diese unsinnigen Versuche, sich an einen Trost zu klammern, solange nicht alle Illusionen erschöpft sind!
Jetzt hielt er das Löschblatt in der Hand und betrachtete es, sinnlos-glücklich, ja, nahe daran, über die Täuschung, der er zum Opfer gefallen war, zu lachen. Plötzlich fiel sein Blick wieder in den Spiegel, er hatte dieselbe schreckliche Vision wie erst. Mit furchtbarer Klarheit sprangen ihm die Lettern ins Auge.
Taumelnd ließ Jean Valjean das Blatt fallen und warf sich in den alten Lehnstuhl, der neben dem Büfett stand. Es war unwiderruflich wahr, Cosette hatte an jemand geschrieben.
Unter allen Qualen, die ihm sein Schicksal jemals auferlegt hatte, war diese die furchtbarste – er fühlte, wie alle längst vernarbten Wunden in ihm aufbrachen. Ach, die höchste, die einzige Prüfung, die wir zu bestehen haben, ist der Verlust des Gegenstandes unserer Liebe.
Jetzt warf er einen tiefen Blick in sein Inneres, und das Gespenst des Hasses tauchte vor seinem Auge auf.
Toussaint trat ein. Jean Valjean stand auf und fragte:
»Wo ist es denn?«
Toussaint war verblüfft und fand keine Antwort.
»Was denn?« fragte sie nur.
»Haben Sie mir nicht eben erst gesagt, daß in den Straßen gekämpft wird?«
»Ach ja, gnädiger Herr, bei Saint-Merry.«
Es gibt mechanische Regungen, die aus tiefen und sogar unbewußten Gedanken hervorgehen, ohne daß wir sie zu registrieren vermögen. Offenbar einer solchen Regung gehorchend, fand sich Jean Valjean fünf Minuten später auf der Straße.
Er war barhäuptig und saß auf dem Prellstein vor seinem Hause. Er schien zu horchen. Schon war es Nacht.
Ein Straßenjunge kämpft gegen Laternen
Wie lange blieb er so? Was ging in ihm vor? War er gebeugt bis zur Erde, oder konnte er sich selbst wieder aufrichten?
Die Straße lag verlassen da. Einige Bürgersleute, die nach Hause strebten, gewahrten ihn kaum. In Zeiten der Gefahr ist die allgemeine Losung: Jeder für sich! Der Laternenanzünder kam zur üblichen Zeit und steckte die Laterne vor Haus Nr. 7 an. Dann ging er wieder. Wenn er Jean Valjean im Schatten bemerkt hätte, gewißhätte er ihn nicht für ein lebendes Wesen gehalten. Noch immer hörte man die Sturmglocke und aus der Ferne Getöse. Zwischendurch klang von Saint-Paul die Glocke herüber, die friedlich, behäbig und ohne Hast elf Uhr anzeigte.
Jean Valjean rührte sich noch immer nicht.
Doch hörte er um diese Zeit von den Hallen herüber eine Gewehrsalve, der kurz nachher eine lautere folgte. Das war der Sturm auf die Barrikade in der Rue de la Chanvrerie. Der Krach war in der stumpfen, nächtlichen Stille doppelt unheimlich. Jean Valjean zitterte. Er stand auf, sah nach der Richtung, aus der das Geräusch herübergekommen war, setzte sich wieder, kreuzte die Arme und ließ den Kopf auf die Brust herabsinken.
Brütend ließ er seinen Gedanken freien Lauf.
Jetzt blickte er auf. Schritte kamen näher. Im Licht der Laterne sah er ein junges, blasses, fröhliches Gesicht. Gavroche war in der Rue de l’Homme Armé erschienen.
Er schien zu suchen. Jean Valjean hatte er bemerkt, doch schenkte er ihm keine Beachtung.
Erst hatte er in die Höhe gesehen, sich auf die Zehenspitzen gestellt, Tore und Fenster betastet. Alle waren versperrt und verriegelt. Nachdem er solchermaßen fünf oder sechs verrammelte Hauseingänge geprüft hatte, zuckte er die Achseln und äußerte zur Sache:
»Hol’s der Teufel!«
Wieder starrte er in die Höhe.
Jean Valjean wäre einen Augenblick vorher in seiner seelischen Verfassung außerstande gewesen, mit einem Menschen zu sprechen, ja auch nur zu antworten; doch fühlte er sich unwiderstehlich zu diesem Jungen hingezogen.
»Was hast du
Weitere Kostenlose Bücher