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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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denn, Kleiner?«
    »Nichts als Hunger«, erwiderte Gavroche eindeutig. Dann aber fügte er hinzu: »Selber Zwerg!«
    Jean Valjean griff in die Tasche und zog ein Fünffrankenstück heraus.
    Gavroche, der wie eine Bachstelze niemals ruhig bleiben konnte, hatte inzwischen einen Stein aufgehoben. Die Laterne tat seinem Auge weh.
    »Ihr habt ja noch Laternen hier«, sagte er. »Ihr müßt mit der Mode mitgehen, Freunde. Das verstößt ja gegen die öffentliche Ordnung. Wir wollen sie gleich einkitschen.«
    Und er warf den Stein in die Laterne, die klirrend zerbrach. Erschrockene Bürger erschienen an den Fenstern und riefen einander zu:
    »Dreiundneunzig ist wieder da!«
    Das Licht schwankte und erlosch. Jetzt lag die Straße vollständig im Dunkel.
    »So ist’s recht, alte Straße«, sagte Gavroche, »setz dir nur die Nachtmütze auf!«
    Jean Valjean trat zu Gavroche.
    »Armer Kerl«, sagte er leise, als ob er mit sich selbst spräche. »Er hat nichts zu essen«, und er drückte ihm das Fünffrankenstück in die Hand.
    Gavroche hob erstaunt die Nase. Er sah, daß die Münze von Silber war. Fünffrankenstücke kannte er nur vom Hörensagen, aber ihr Ruf war auch in seinen Kreisen gut, und er fand es angenehm, eines zu besitzen.
    Dann wandte er sich zu Jean Valjean, hielt ihm die Münze wieder hin und sagte großartig:
    »Bourgeois, ich will lieber Laternen einkitschen. Nehmen Sie wieder Ihren Batzen zurück. Mich besticht man nicht. Der Adler da hat fünf Klauen, aber mich soll er nicht kratzen.«
    »Hast du eine Mutter?« fragte Jean Valjean.
    »Vielleicht mehr Mama als Sie.«
    »Gut, dann bring das Geld deiner Mutter.«
    Gavroche war gerührt. Auch bemerkte er, daß der Mann, mit dem er da sprach, keinen Hut aufhatte, und das flößte ihm Vertrauen ein.
    »Also Sie geben mir das nicht, um mich vom Laterneneinschmeißen abzuhalten?«
    »Wirf so viele ein, wie du willst.«
    »Sie sind ein Ehrenmann«, antwortete Gavroche und steckte das Fünffrankenstück in die Tasche.
    Er war zutraulicher geworden.
    »Sind Sie aus der Straße hier?«
    »Ja. Warum?«
    »Können Sie mir Nr. 7 zeigen?«
    »Was willst du in Nr. 7?«
    Der Junge fürchtete, er habe schon zuviel gesagt, und antwortete nur:
    »Allerhand.«
    Jetzt hatte Jean Valjean einen Gedanken. Die Angst läßt manchmal ein seltsames Licht in uns aufflammen.
    »Bringst du mir den Brief, auf den ich warte?«
    »Nein, Sie sind doch keine Frau.«
    »Der Brief ist an Fräulein Cosette gerichtet, nicht wahr?«
    »Cosette? Ja, ich glaube, sie hatte so einen albernen Namen.«
    »Nun, dann bin ich es, dem du den Brief geben sollst.«
    »Dann wissen Sie wohl auch, daß ich von der Barrikade komme?«
    »Gewiß doch.«
    Gavroche griff in die Tasche und zog das gefaltete Papier heraus. Dann grüßte er militärisch.
    »Respekt vor dieser Depesche, sie kommt von der provisorischen Regierung!«
    »Gut.«
    Gavroche hielt das Papier fest.
    »Bilden Sie sich nur ja nicht ein, daß das ein Liebesbrief ist. Er ist an eine Frau gerichtet, aber er gilt dem Volke. Wir prügeln uns untereinander, aber das weibliche Geschlecht achten wir.«
    »So gib schon!«
    Gavroche reichte den Brief Jean Valjean.
    »Und beeilen Sie sich, Herr Dingsda, denn Fräulein Cosette wartet schon! Antwort ist unnötig. Wenn Sie zu uns gelangen wollen, werden Sie in einen recht unverdaulichen Kuchen beißen. Dieser Brief kommt von der Barrikade in der Rue de la Chanvrerie, zu der ich jetzt zurückkehre. Guten Abend, Bürger!«
    Einige Augenblicke nachher hörte man bereits aus der Ferne lautes Klirren. Gavroche spazierte durch die Rue du Chaume.
Während Cosette und Toussaint schlafen
    Jean Valjean trat mit dem Brief Marius’ in das Haus.
    Er tastete sich die Treppe hinauf, öffnete leise seine Tür, lauschte, stellte fest, daß Cosette und Toussaint offenbar schliefen, und brauchte – so sehr zitterten seine Hände – drei oder vier Streichhölzer, um Licht anzuzünden.
    In Augenblicken solcher Erregungen liest man nicht, sondernverschlingt gewissermaßen das Papier, verschluckt es wie ein Opfer, überspringt den Anfang und hastet dem Ende zu.
    In Marius’ Brief an Cosette sah Jean Valjean nur die Worte:
    »… wenn du dies liest, wird meine Seele bei dir sein …«
    Eine furchtbare Freude ergriff ihn. Einen Augenblick stand er wie betäubt unter dem jähen Wechsel der Empfindungen. Fast trunken vor Entzücken starrte er den Brief an. Das Herrlichste, den Tod des Gehaßten, hatte er vor sich.
    Es war also zu Ende.

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