Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Rascher war diese Sache zum Abschluß gekommen, als er gehofft hatte. Der Fremde, der in sein Schicksal eingegriffen, verschwand wieder. Verschwand freiwillig, aus eigener Kraft. Ohne daß er, Jean Valjean, etwas dazu tat. Vielleicht war jener Feind in diesem Augenblick schon tot.
Das Fieber hat seine eigene Art, Dinge zu berechnen.
Nein, tot konnte er noch nicht sein. Der Brief war offenbar in der Absicht geschrieben, am nächsten Tag in Cosettes Hände zu gelangen. Seit den zwei Salven, die Jean Valjean zwischen elf Uhr und Mitternacht gehört hatte, war nichts mehr vorgefallen. Vor Tagesanbruch würde die Barrikade nicht mehr ernsthaft angegriffen werden, aber immerhin, ein Mensch, der sich in diesen Kampf eingelassen hatte, war schon verloren.
Jean Valjean fühlte sich befreit. Er würde also mit Cosette allein bleiben. Der Nebenbuhler wich. Wieder war das Tor der Zukunft geöffnet. Er brauchte ja diesen Brief nur bei sich zu behalten. Cosette würde nie erfahren, was aus »diesem Menschen« geworden war. Jean Valjean brauchte die Dinge nur ihren Lauf nehmen zu lassen.
Er stieg hinab und weckte den Portier.
Eine Stunde später ging Jean Valjean in seiner Nationalgardistenuniform und vollkommen bewaffnet aus. Der Portier hatte in der Nachbarschaft alles aufgetrieben, was zur Ausrüstung noch gefehlt hatte.
Jean Valjean marschierte in der Richtung auf die Hallen zu.
Fünfter Teil
Jean Valjean
Erstes Buch
Eine Schlacht zwischen vier Wänden
Vorbereitungen zum neuen Kampf
Die Revolutionäre bemühten sich unter Aufsicht Enjolras’ – denn Marius kümmerte sich um nichts mehr –, die Nacht auszunützen, so gut es ging. Die Barrikade wurde nicht nur ausgebessert, sondern auch verstärkt. Man erhöhte sie um zwei Fuß und pflanzte Eisenstangen in sie, die wie Lanzen aus den Pflastersteinen hervorragten.
Allerlei Schutt und Abfall wurde darübergestreut, um die Ersteigung unmöglich zu machen.
Nachdem die Barrikade solchermaßen wieder instand gesetzt war, brachte man die Gaststube in Ordnung, richtete in der Küche eine Ambulanz ein und sorgte dafür, daß alle Verwundeten verbunden wurden. Das Pulver, das auf der Erde und auf den Tischen verstreut worden war, wurde gesammelt, man goß Kugeln, fabrizierte Patronen, zupfte Scharpie, verteilte die Waffen der Gefallenen, schaffte die Leichen fort.
Die Toten wurden in der Rue Mondétour, die man ja immer noch beherrschte, zu einem Haufen aufgeschichtet. Das Pflaster dieser kleinen Gasse ist noch lange nachher rot gewesen. Unter den Toten fand man vier Nationalgardisten. Enjolras ließ ihnen die Uniformen ausziehen.
Er hatte zwei Stunden Schlaf anbefohlen. Doch konnten die meisten keine Ruhe finden. Die drei Frauen benützten die Nacht, um endgültig zu verschwinden. Sie fanden ein Mittel, in ein Nachbarhaus zu gelangen, und überließen »Corinthe« den Revolutionären, die sich jetzt weniger behindert fanden. Die Deichsel des Omnibusses war zwar von den Kugeln beschädigt, aber noch immer stark genug, um eine Fahne zu tragen. Enjolras, der die Führereigenschaft besaß, zu tun, was er vorher sagte, befestigte an ihr den zerlöcherten und blutbedeckten Rock des toten Mabeuf. Die meisten der Verwundeten wollten weiterkämpfen. Auf einer Matratze und einigen Strohsäcken lagen in der Küche fünf Schwerverletzte, darunter zwei Munizipalgardisten.
An eine Mahlzeit war nicht zu denken. Weder Fleisch noch Brot war aufzutreiben. Die fünfzig Männer hatten in den sechzehn Stunden, die sie bereits auf der Barrikade zubrachten, alle Vorräte des Wirtshauses aufgebraucht.
Da man nichts zu essen hatte, wollte Enjolras auch nicht erlauben, daß getrunken werde. Er verbot den Genuß von Wein und rationierte den Branntwein.
Im Keller hatte man fünfzehn hermetisch verschlossene Flaschen gefunden. Enjolras konfiszierte sie trotz des lebhaften allgemeinen Einspruchs und ließ sie auf den Tisch stellen, auf dem Mabeuf lag. Gegen zwei Uhr morgens wurde eine Zählung der kampffähigen Männer vorgenommen. Man fand ihrer noch siebenunddreißig.
Bald darauf graute der Morgen. Die Fackel wurde gelöscht. Das Innere der Barrikade, eine Art kleiner Hof inmitten der Straße, lag noch immer im Dunkel und glich in der ersten Dämmerung dem Deck eines Schiffes, das Mast und Takelwerk verloren hat. Die Kämpfer gingen wie schwarze Schatten hin und her. Über diesem finsteren Platz tauchten im ersten Lichtschimmer die fahlen Fassaden der Häuser auf und, etwas heller, in der Höhe,
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