Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
war Führer durch und durch. Als er sah, daß einige wider ihn murrten, beharrte er bei seinem Willen.
»Die unter euch, die sich fürchten, nur dreißig zu sein, mögen sich melden.«
Der Einspruch wurde lauter.
»Übrigens ist es ja leicht«, bemerkte einer, »von Weggehen zu sprechen. Wir sind blockiert.«
»Nicht in der Richtung zu den Hallen«, erklärte Enjolras. »Die Rue de Mondétour ist noch offen, und man kann durch die Rue des Prêcheurs zum Markt des Innocents gelangen.«
»Und dort wird man gefaßt. Gewiß fällt man irgendeiner Wache in die Hände. Wenn die Kerle einen Mann in Arbeiterbluse und Mütze sehen, werden sie fragen: Von wo kommst du? Etwa von der Barrikade? Dann sieht man dir auf die Hände, riecht das Pulver – du wirst erschossen.«
Enjolras berührte, ohne zu antworten, Combeferres Schulter, und die beiden traten in das Gastzimmer.
Gleich darauf kamen sie zurück. Enjolras trug in seinen beiden Händen die vier Uniformen, die er den Gefallenen abgenommen hatte, Combeferres brachte das Gurtzeug und die Tschakos.
»Mit diesen Uniformen«, erklärte Enjolras, »spaziert man quer durch die Feinde hindurch und entschlüpft. So können zunächst vier gerettet werden.«
Und er warf die vier Uniformen auf den Boden.
»Hört«, rief jetzt Combeferre, »ihr müßt ein Einsehen haben. Begreift ihr denn, worum es sich handelt? Sind unter euch welche, die Frauen haben, ja oder nein? Und Kinder? Und Mütter, die mit dem Fuß die Wiege treten und einen Haufen Kleiner um sich haben? Wer unter euch niemals den Busen einer nährenden Frau gesehen hat, der möge die Hand heben! Ihr wollt euch töten lassen? Gut, das will ich auch, aber ich will dabei nicht die Gespenster von Frauen dabei haben, die verzweifelt die Arme ringen. Um euch geht es nicht! Wir wissen, wer ihr seid. Ihr seid alle tapfer, gewiß, jeder von euch ist bereit, sein Leben für die Sache herzugeben! Wir wissen auch, daß keiner unter euch ist, der sich nicht auserwählt fühlt, nutzbringend und herrlich zu sterben, und dadurch seinen Teil am Triumph haben will. Aber wartet: ihr seid nicht allein auf der Welt. Es gibt noch andere, an die ihr denken müßt. Ihr dürft nicht egoistisch handeln.«
Alle neigten mit düsterer Miene den Kopf.
In solchen Augenblicken ist das Menschenherz voll seltsamer Widersprüche. Combeferre, der so sprach, war selbst keine Waise. Er, der sich der Mütter der andern erinnerte, vergaß darüber die seine. Er wollte sterben, er war also »ein Egoist«.
»Enjolras und Combeferre haben recht«, rief Marius. »Unnütze Opfer wollen wir vermeiden. Und wir müssen uns beeilen. Was Combeferre gesagt hat, erlaubt keine Widerrede. Unter euch sind Männer, die Mütter, Schwestern, Frauen und Kinder haben. Sie mögen vortreten.«
Keiner rührte sich.
»Die verheirateten Männer und Familienernährer sollen vortreten!« wiederholte Marius.
»Ich befehle es euch!« schrie Enjolras.
»Ich bitte euch darum«, sagte Marius.
Endlich begannen diese Helden zu einem Entschluß zu kommen. Sie denunzierten einer den andern.
»Es ist ganz richtig«, sagte ein junger Mann zu einem älteren, »du bist Familienvater, geh.«
»Und du mußt viel eher gehen als ich«, erwiderte der andere, »du ernährst zwei Schwestern.«
Jetzt begann ein neuer Kampf.
»Beeilt euch«, sagte Courfeyrac, »in einer Viertelstunde ist es zu spät.«
»Bürger«, erklärte Enjolras, »bei uns ist Republik, hier entscheidet die Abstimmung. Ihr selbst sollt jene bestimmen, die gehen.«
Man gehorchte. Nach wenigen Sekunden hatte man die Wahl getroffen.
»Es sind ihrer fünf«, zählte Marius.
Aber man besaß nur vier Uniformen.
»Gut«, riefen die fünf wie aus einer Kehle, »da muß einer von uns bleiben.«
Neuerlich begann der edle Wettstreit.
»Macht rasch!« wiederholte dringender Courfeyrac.
Marius trat auf die fünf zu, die ihm zulächelten und alle die große Flamme der Kämpfer von den Thermopylen in den Augen hatten, als sie ihm entgegenriefen:
»Mich! Nimm mich!«
In diesem Augenblick wurde, als ob sie vom Himmel fiele, eine fünfte Uniform zu den vier anderen geworfen.
Marius blickte auf und erkannte Fauchelevent. Jean Valjean war auf der Barrikade erschienen. Instinkt und Glück hatten ihn in die Rue Mondétour gelenkt, und dank seiner Nationalgardistenuniform hatte man ihn überall durchgelassen.
In der Rue Mondétour war er dem Posten der Insurgenten begegnet, der aber wegen eines einzigen Nationalgardisten nicht
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