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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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nicht.
Gavroche draußen
    Plötzlich bemerkte Courfeyrac, daß jemand draußen auf der Straße, im Kugelregen, hin und her lief.
    Gavroche hatte einen Korb ergriffen, war durch die Lücke hinausgeklettert und begann jetzt in aller Ruhe die Patronentaschen der gefallenen Nationalgardisten zu plündern.
    »Was tust du da draußen?« rief Courfeyrac.
    »Ich fülle meinen Korb, Bürger.«
    »Siehst du die Kugelspritze nicht?«
    »Ach ja, es regnet ein wenig.«
    »Komm zurück!« schrie Courfeyrac.
    »Gleich!«
    Etwa zwanzig Tote lagen auf dem Straßenpflaster. Das bedeutete für Gavroche zwanzig Patronentaschen. Reichlich Munition für die Leute auf der Barrikade.
    Noch immer lag der Pulverdampf wie Nebelschwaden über der Straße. Nur allmählich verzog er sich. Noch konnten die feindlichen Parteien einander kaum erkennen.
    Diese schlechte Sicht lag vielleicht in der Absicht der Führer, die den Angriff auf die Barrikade vorbereiteten. Jedenfalls kam sie Gavroche zugute.
    Dank seiner geringen Größe konnte er, ohne gesehen zu werden, ziemlich weit in die Straße vordringen. Die sieben oder acht ersten Patronentaschen leerte er ohne besondere Gefahr.
    Bald lag er auf dem Bauch, bald kroch er, den Korb zwischen den Zähnen, hüpfte auf, schlängelte sich zwischen den Toten hin, leerte eine Patronentasche, wie ein Affe eine Nuß knackt.
    Von der Barrikade, die nicht allzu weit entfernt war, rief man ihm nicht mehr zu, er solle zurückkommen, denn man wollte nicht die Aufmerksamkeit der Angreifer auf ihn lenken.
    Bei der Leiche eines Korporals fand er ein Pulverhorn.
    »Etwas für den Durst«, sagte er.
    Jetzt gelangte er in eine Zone, die weniger vom Pulverdampf abgedichtet war. Plötzlich tauchte vor den Schützen am Ende der Straße eine undeutliche Gestalt auf, die sich im Nebel bewegte.
    Gavroche war eben dabei, einen Sergeanten, der neben einem Prellstein lag, seines Munitionsvorrates zu berauben. Da schlug eine Kugel in den Leichnam.
    »Verdammt«, schrie Gavroche, »bringt mir doch nicht meine Leichen um!«
    Eine zweite schlug neben ihn auf das Pflaster, daß die Funken sprühten. Eine dritte traf seinen Korb. Gavroche blickte auf und sah, daß sie von den Nationalgardisten auf den Dächern rings um Paris herrührte. Da begann er, frech und in aller Seelenruhe zu singen:
    »Man ist häßlich in Nanterre,
    Schuld daran ist nur Herr Voltaire,
    Blöd ist man in Palaiseau,
    Schuld daran ist nur Rousseau.«
    Jetzt nahm er seinen Korb wieder vor und sammelte die Kugeln, die herausgefallen waren. Ein vierter Schuß verfehlte ihn. Da sang Gavroche:
    »An Voltaire liegt’s allein,
    Daß ich Bauer muß sein,
    Rousseau hat’s gewollt,
    Daß kein Mädel mir hold.«
    Und so ging es einige Zeit weiter.
    Die Szene war schrecklich und reizvoll zugleich. Gavroche, der beschossen wurde, schien die Kugeln zu verspotten. Es war, als ob ein Sperling die Jäger picken wollte. Auf jeden Schuß antwortete er mit einem Couplet. Alle sahen ihn, aber jeder verfehlte ihn. Während die Nationalgardisten und Soldaten auf ihn zielten, mußten sie lachen. Bald warf er sich zu Boden, dann wieder sprang er auf, verschwand in einem Torbogen, sprang wieder hervor – und immer wieder sammelte er Patronen, leerte Taschen und füllte seinen Korb. Atemlos vor Angst folgten ihm die Revolutionäre mit ihren Blicken.
    Eine Kugel indessen, besser gezielt, traf endlich den Jungen. Man sah Gavroche taumeln und fallen. Alle auf der Barrikade schrien auf. Aber sobald der Straßenjunge auf dem Pflaster lag, schien er neue Kraft zu gewinnen. Sofort richtete er sich wieder auf. Ein langer Faden Blut lief über sein Gesicht. Dann erhob er beide Arme, sah nach den Feinden, die auf ihn schossen, und sang ein letztes Mal:
    »Voltaire hat’s so gewollt,
    Daß ich einst fallen sollt,
    Rousseau wollt’ es so wenden,
    Daß ich im Dreck sollt …«
    Er kam nicht zu Ende. Eine zweite Kugel brachte ihn zum Verstummen. Diesmal fiel er mit dem Gesicht aufs Pflaster und rührte sich nicht mehr. Die kleine große Seele war erloschen.
Der Geier als Beute
    Plötzlich, zwischen zwei Salven, hörte man aus der Ferne eine Turmuhr schlagen.
    »Mittag!« rief Combeferre.
    Noch war der zwölfte Schlag nicht verhallt, als Enjolras auffuhr und mit Donnerstimme rief:
    »Tragt Pflastersteine in das Haus! Befestigt die Fenster und Mansarden! Nur die Hälfte bleibt bei den Gewehren. Verliert keine Minute!«
    Ein Trupp Sappeure war, mit den Äxten auf der Schulter, in Schlachtordnung

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