Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Kloaken.
Wer hatte das getan?
Nicht die leiseste Spur seines Retters war aufzufinden.
Marius ging sogar so weit, die nötige Vorsicht außer acht zu lassen und die Präfektur an seinen Nachforschungen zu interessieren. Aber auch von dieser Seite kam keine Aufklärung. Die Polizei wußte weniger als jener Kutscher. Über eine Verhaftung, die am 6. Juni vor dem Ausgang der Sammelkloake stattgefunden haben sollte, war nichts bekannt. Es lag darüber kein Bericht eines Agenten vor, und daher wurde der Vorfall in das Reich der Fabeln verwiesen. Ein Kutscher, der es auf ein Trinkgeld abgesehen hatte, war, meinten die Polizisten, sogar der Phantasie fähig.
Alles an diesem seltsamen Rätsel war unerklärlich.
Viertes Buch
Die Nacht des 16. Februar 1833
Vorher
Die Nacht vom 16. zum 17. Februar 1833 war eine gesegnete. Über ihrem Dunkel stand der Himmel offen. Denn diese Nacht war die Hochzeitsnacht Marius’ und Cosettes.
Am Abend zuvor übergab Jean Valjean Marius in Gegenwart Herrn Gillenormands die fünfhundertvierundachtzigtausend Franken. Da Gütergemeinschaft verabredet worden war, ergaben sich keine schwierigen Formalitäten. Jean Valjean bedurfte in Zukunft der Dienste Toussaints nicht mehr. Cosette hatte sie geerbt und zur Kammerfrau ernannt.
Auch für Jean Valjean wurde im Hause Gillenormands ein schönes Zimmer bereitgestellt, und Cosette hatte ihn gebeten: »Vater, ich bitte dich darum«, so daß er endlich darein gewilligt hatte, bei ihr zu wohnen.
Einige Tage vor der Hochzeit hatte Jean Valjean einen Unfall; dabei verletzte er sich am Daumen der rechten Hand. Die Sache war nicht bedenklich, er hatte nicht erlaubt, daß irgend jemand sich damit beschäftige, nicht einmal Cosette. Doch hatte er die Hand mit Leinen umwickeln müssen und trug den Arm in der Binde, was ihn hinderte zu schreiben. So war Gillenormand gezwungen, an Valjeans Stelle als Vormund Cosettes aufzutreten.
Cosette sah auf dem Standesamt und in der Kirche strahlend und rührend zugleich aus. Toussaint hatte sie mit Hilfe Nicolettes angezogen.
Sie trug ein weißes Taftunterkleid, darüber eine Robe aus Chiffon, ein Perlenkollier und einen Brautkranz aus Orangenblüten. Die weiße Farbe ließ sie wie eine Lichtgestalt erscheinen.
Der Großvater, der stolz und hocherhobenen Hauptes einherschritt und in seiner Kleidung und seinem Gehaben die ganze Eleganz vergangener Zeiten repräsentierte, war Brautführer. Er vertrat Jean Valjean, der wegen seines verbundenen Armes Cosette nicht den Arm bieten konnte.
Jean Valjean, ganz in Schwarz gekleidet, folgte den beiden lächelnd.
Die beiden jungen Leute strahlten. Jetzt erlebten sie diesen einmaligen, niemals wiederkehrenden Augenblick, den Kreuzungspunkt der Jugend und der Freude. Sie waren zusammen kaum vierzig Jahre alt. In ihrer Heirat war etwas Erhabenes: diese beiden jungen Menschen waren Lilien. Sie sahen einander nicht, sie staunten einander an. Cosette sah Marius in einem Glorienschein, und für Marius stand Cosette auf einem Altar. Und auf dem Grund dieser beiden Apotheosen wartete, dunkel und ungewiß in Cosette, glühend in Marius, die Sehnsucht nach dem Brautgemach.
Solche Tage sind eine unbeschreibliche Mischung aus Gewißheit und Träumerei. Man besitzt bereits und ist doch noch in Erwartung. Noch hat man Zeit vor sich, um das letzte zu erraten. Man genießt den Mittag und träumt zugleich von der Mitternacht. Das Entzücken dieser beiden Herzen strömte über auf die Menge und stimmte die Vorüberkommenden glücklicher.
In der Rue Saint-Antoine blieben die Leute vor Saint-Paul stehen, um durch die Glastür des Wagens die Orangenblüten auf Cosettes Kopf zittern zu sehen.
Dann kehrte die Gesellschaft nach der Rue des Filles-du-Calvaire zurück. Strahlend und beglückt stieg Marius an der Seite Cosettes die Treppe hinan, die man ihn einst als Sterbenden hinaufgetragen hatte. Die Armen, die sich vor dem Tore drängten und Almosen empfingen, segneten das Paar. Überall waren Blumen. Das Haus duftete nicht weniger als die Kirche; nach dem Weihrauch traten die Rosen in ihr Recht.
Plötzlich schlug die Uhr. Marius blickte auf Cosettes reizenden, entblößten Arm, und sein Blick streifte die Brüste, die durch die Spitzen des Mieders rosig schimmerten; Cosette gewahrte Marius’ Blick und errötete bis zum Weiß der Augen.
Eine Menge alter Freunde der Familie Gillenormand war eingeladen worden. Man umdrängte Cosette, beeilte sich, sie als Baronin zu begrüßen.
Théodule
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