Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
vorgegaukelt. Übrigens waren beide Männer von Natur aus zurückhaltend. Marius brachte keine Frage über die Lippen.
Daß zwei Menschen ein gemeinsames Geheimnis haben und vermöge einer stillschweigenden Übereinkunft kein Wort darüber verlieren, ist vielleicht weniger selten, als man glauben möchte.
Einmal nur versuchte Marius, einen Anhaltspunkt zu finden. Zufällig kam das Gespräch auf die Rue de la Chanvrerie. Er wandte sich nach Fauchelevent um und sagte:
»Kennen Sie diese Straße?«
»Welche?«
»Die Rue de la Chanvrerie.«
»Keine Ahnung«, antwortete Fauchelevent, vollkommen unbefangen.
Diese Antwort schien Marius entscheidender, als sie war.
Ich habe geträumt, dachte er. Es war eine Halluzination. Vielleicht einer, der ihm ähnlich war. Fauchelevent ist nicht dabeigewesen.
Zwei Unauffindbare
Aber so glücklich Marius auch war, einige Gedanken ließen sich nicht aus seinem Geist verdrängen. Während die Vorbereitungen zur Hochzeit getroffen wurden, stellte er mit größter Sorgfalt Nachforschungen an. Denn er hatte Dank abzustatten – Dank für seinen Vater und für sich.
Da war Thénardier, und da war jener Unbekannte, der ihn zu Gillenormand gebracht hatte.
Marius wollte unbedingt beide wieder ausfindig machen, denn der Gedanke war ihm schmerzlich, daß er selbst heirate und glücklich sei, seine Schulden aber unbezahlt lasse. Es war ihm unmöglich, eine Vergangenheit der Leiden hinter sich zu lassen und ohne Lösegeld in eine glückliche Zukunft einzutreten.
Daß Thénardier ein Schuft war, besagte nichts dagegen, daß er den Oberst Pontmercy gerettet hatte. Für alle Welt war er ein Bandit, für Marius nicht.
Aber es gelang keinem der Leute, die Marius beauftragt hatte, Thénardiers Spur wieder aufzufinden. Er war wie vom Erdboden verschwunden. Die Thénardier war, während der Prozeß vorbereitet wurde, im Gefängnis gestorben. So blieben nur Thénardier und seine Tochter Azelma übrig, und beide waren im Schatten untergetaucht. An der Oberfläche konnte man nicht einmal jene konzentrischen Kreise bemerken, die sonst verraten, wo etwas in den Tümpel der Ungewißheit gefallen ist.
Die Thénardier war tot, Boulatruelle hatte man entlassen, Claquesous war verschwunden. Die Hauptangeklagten waren entsprungen; so war der Prozeß wegen des Überfalls im Gorbeauschen Hause recht unergiebig geworden. Das Dunkel blieb ungelüftet. Die Assisen mußten sich begnügen, zwei Helfershelfer, Panchaud, der Bigrenaille genannt wurde, und Demi-Liard, der sich Deux-Milliards nennen ließ, zu je zehn Jahren zu verurteilen. Gegen die Entsprungenen wurde in contumaciam auf lebenslängliche Haft befunden. Thénardier als Anführer war, ebenfalls in contumaciam, zum Tode verurteilt worden. Das war das einzige, was über Thénardier zu melden war, nachdem er selbst sich dem Zugriff seiner Verfolger entzogen hatte.
Was die Nachforschungen nach dem Unbekannten betrifft, der Marius gerettet hatte, so schienen sie zuerst ergiebiger, gerieten aber bald auf einen toten Punkt. Der Droschkenkutscher wurde ausfindig gemacht, der Marius am Abend des 6. Juni in die Rue des Filles-du-Calvaire gefahren hatte. Er erklärte, daß er am 6. Juni von einem Polizeiagenten in Dienst genommen worden sei, und von drei Uhr nachmittags bis ein Uhr nachts am Quai des Champs-Elysées gewartet habe, unweit des Ausgangs der Sammelkloake; gegen neun Uhr abends sei das Gitter der Kloake geöffnet worden und ein Mann sei herausgekommen, der auf seinen Schultern einen andern, der wie tot aussah, trug; dann habe der Polizeiagent den Lebenden verhaftet und den Toten in Beschlag genommen. Der Kutscher habe sie alle in seiner Droschke nach der Rue des Filles-du-Calvaire gebracht. Hier sei der Tote herausgeschafft worden – eben derselbe Marius, den der Kutscher sofort wiedererkannte, obwohl er »diesmal« lebend war; dann seien die beiden anderen wieder in den Wagen gestiegen und in aller Hast zur Porte des Archives gefahren. Da habe man ihn halten lassen, habe ihn bezahlt, und der Polizist sei mit dem andern verschwunden.Mehr wisse er, der Kutscher, nicht, zumal jene Nacht sehr finster war.
So mußte Marius sich auf vage Vermutungen beschränken.
An seiner eigenen Identität konnte er wohl nicht zweifeln. Wie aber war es möglich, daß er in der Rue de la Chanvrerie gefallen und am Seineufer von einem Polizisten aufgefunden worden war? Also hatte ihn jemand von der Markthalle bis zu den Champs-Elysées geschleppt. Und wie? Durch die
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