Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
sein Bett, und seine Augen blieben, zufällig oder beabsichtigt, an dem Koffer hängen, von dem er sich nie hatte trennen wollen und von dem Cosette sagte, sie sei eifersüchtig auf ihn. Jean Valjean hatte ihn am 4. Juli auf ein Tischchen neben sein Bettgestellt. Jetzt trat er näher, zog einen Schlüssel aus der Tasche und sperrte den Koffer auf.
Langsam nahm er daraus die Kleider, in denen Cosette vor zehn Jahren Montfermeil verlassen hatte: das schwarze Kleid, ein Umschlagetuch, plumpe, kleine Kinderschühchen, die Cosette vielleicht jetzt noch gepaßt hätten, ein warmes Jäckchen, einen Trikotunterrock, eine Schürze mit Taschen und Wollstrümpfe. Alle diese Dinge waren schwarz. Er hatte sie nach Montfermeil gebracht. In der Reihenfolge, wie er sie aus dem Koffer nahm, legte er sie auf das Bett. Er sann.
Es war Winter, ein kalter Dezember, da hatte er sie getroffen, halbnackt, in Lumpen gehüllt, rotgefrorene Füßchen in groben Holzschuhen. Er, Jean Valjean, hatte sie von diesen Lumpen befreit und sie in Trauerkleider gesteckt. Er dachte an den Wald von Montfermeil. Sie hatten ihn zusammen durchschritten, Cosette und er; die Bäume waren kahl gewesen, kein Vogel hatte den Himmel, den kein Sonnenstrahl erhellte, belebt: und doch war es schön gewesen. Er ordnete die Kleinigkeiten, die ihm lieb geworden waren, auf dem Bett, legte das Tuch zu dem Unterrock, die Strümpfe neben die Schuhe, das Kleidchen neben den Rock. Sie war damals noch sehr klein gewesen, hatte mit Mühe die große Puppe getragen; in der Tasche hatte sie ihren Louisdor gehabt, hatte gelacht; so waren sie Hand in Hand weitergegangen. Niemand hatte sie besessen als ihn.
Und jetzt beugte sich dieser weiße, ehrwürdige Kopf auf das Bett herab, dies alte, stoische Herz drohte zu zerbrechen, sein Gesicht vergrub sich in Cosettes Kleidern, und wenn in diesem Augenblick jemand die Treppe heraufgekommen wäre, hätte er den Greis furchtbar schluchzen gehört.
Der letzte Tropfen des Kelches
Der Tag nach der Hochzeit ist ruhig. Man läßt die Glücklichen allein. Man schont ihren langen Schlaf. Der Trubel der Glückwünsche und Besuche setzt erst später ein.
Am 17. Februar war es schon über Mittag, als Baske, Staubtuch und Staubwedel unter dem Arm, das Vorzimmer aufräumte. Plötzlich hörte er, wie an die Türe geklopft wurde. Der Fremde hatte nicht geläutet, wie es sich an einem solchen Tage geziemte. Baske öffneteund sah Fauchelevent. Er führte ihn in den Salon, in dem noch alles drunter und drüber war und der noch einem Schlachtfelde glich.
»Ach, Herr«, sagte er, »wir sind spät aufgestanden.«
»Ist Ihr Herr schon auf?« fragte Jean Valjean.
»Welcher? Der alte oder der neue?«
»Herr Pontmercy.«
»Ach, der Herr Baron?«
Baron ist man hauptsächlich für die Dienstboten. Auf sie fällt immer etwas von dem Glanz ab. Marius, der ja ein kriegerischer Republikaner war, der noch dazu seine Gesinnung erprobt hatte, war Baron wider Willen. Sein Titel hatte in der Familie eine kleine Revolution veranlaßt. Jetzt war es Gillenormand, der ihn in den Vordergrund schob, während Marius ihn zurückstellte. Aber der Oberst Pontmercy hatte geschrieben:
»Mein Sohn wird meinen Titel tragen.«
Marius gehorchte, und Cosette, in der sich die Frauenart fühlbar machte, war entzückt, Frau Baronin zu sein.
»Der Herr Baron?« wiederholte Baske, »ich werde nachsehen. Ich will ihm sagen, daß Herr Fauchelevent hier ist.«
»Nein. Sagen Sie ihm das nicht. Bestellen Sie ihm nur, daß jemand da ist, der ihn allein zu sprechen wünscht. Nennen Sie keinen Namen.«
Jean Valjean blieb allein.
Der Salon war, wie wir bereits berichteten, in vollkommener Unordnung. Auf dem Parkett lagen allerlei Blumen, die aus Girlanden und Frisuren herabgefallen waren. Die Kerzen, bis auf den Stumpf niedergebrannt, bildeten auf den kristallenen Leuchtern Stalaktiten aus Wachs. Kein Möbel stand an seinem Platz. In den Ecken waren Lehnstühle zusammengerückt und schienen ein Gespräch fortzusetzen.
So vergingen einige Minuten. Jean Valjean stand noch immer unbeweglich an dem Platze, an dem Baske ihn verlassen hatte. Er war sehr blaß. Seine Augen glühten und lagen infolge der Schlaflosigkeit in tiefen Höhlen. Der schwarze Rock war so zerdrückt, daß man auf den ersten Blick erkannte, er sei in dieser Nacht nicht abgelegt worden.
Jetzt kam von der Türe das Geräusch von Schritten näher, Jean Valjean blickte auf.
Lachend und erhobenen Hauptes trat Marius ein. Auch
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