Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
König den Erfinder zum Ritter der Ehrenlegion. Neue Aufregung in der Kleinstadt. Aha, das war es, worauf Madeleine hinauswollte!
Aber er lehnte wieder ab.
Ein Rätsel, dieser Mensch. Die guten Leute zogen sich aus der Affäre, indem sie sagten: »Alles in allem eine Art Abenteurer.«
Der Leser hat gesehen, daß die Stadt ihm viel, die Armen ihm alles verdankten; seine Arbeiter waren ihm sehr zugetan. Er nahm ihre Liebe mit schwermütigem Ernst an. Als feststand, daß er reich sei, grüßten ihn die Leute aus der feinen Gesellschaft von Montreuil sur Mer, und man nannte ihn jetzt Herr Madeleine; die Arbeiter und die Kinder aber beließen es bei Vater Madeleine, und ihm war es recht so. Im Ausmaß, in dem er seinen Aufstieg nahm, regnete es Einladungen. Jetzt nahm die gute Gesellschaft ihn in Anspruch. Die kleinen Salons von Montreuil sur Mer, die dem Handwerker immer verschlossen gewesen wären, öffneten ihre Türen dem Millionär. Aber er blieb zurückhaltend.
Auch diesmal wußten die ganz Gescheiten eine Erklärung. Er ist unwissend, sagten sie, ein Mensch ohne Erziehung. Wer kennt seine Herkunft? Vielleicht wüßte er sich nicht in guter Gesellschaft zu bewegen. Man weiß ja nicht einmal bestimmt, ob er lesen kann.
So war es: als man ihn Geld verdienen sah, hatte man gesagt: ein Schacherer. Später, als man ihn Geld verschenken sah: ein Ehrgeizling. Als er die ihm angebotenen Ehrungen ausschlug: ein Abenteurer. Und als er sich von der Gesellschaft abschloß: ein ungebildeter Lümmel.
1820 aber, fünf Jahre nach seiner Ankunft in Montreuil sur Mer, strahlten die Dienste, die er seiner Stadt erwiesen, in so hellem Licht und die Meinung des Landes war so einhellig, daß der König ihn neuerlich zum Bürgermeister ernannte. Wieder wollte er ablehnen, aber der Präfekt drängte ihn, die Leute auf der Straße redeten ihm zu, bis er schließlich annahm. Entscheidend für seinen Entschluß war der ärgerliche Ausruf einer alten Arbeiterin gewesen, die zornig gesagt hatte:
»Ein guter Bürgermeister ist eine nützliche Sache! Darf man nein sagen, wenn man Gutes tun soll?«
Dies war die dritte Stufe seines Aufstiegs. Vater Madeleine war Herr Madeleine, Herr Madeleine Herr Bürgermeister.
Zu Beginn des Jahres 1821 meldeten die Journale den Tod des Bischofs Myriel von Digne, genannt Monsignore Bienvenu, der im Alter von zweiundachtzig Jahren und im Rufe hoher Heiligkeit verschieden war.
Der Bischof war, um diese Einzelheit hinzuzufügen, die von den Zeitungen nicht erwähnt wurde, seit Jahren blind gewesen, aber versöhnt mit diesem Schicksal, da ja seine Schwester bei ihm war.
Sofort nach dem Erscheinen der Todesanzeige im Stadtblatt von Montreuil sur Mer legte Herr Madeleine schwarze Kleider an und schlang einen Trauerflor um seinen Hut.
Man bemerkte es in der Stadt und mutmaßte allerlei. Man glaubte etwas über die Herkunft des Herrn Madeleine erfahren zu haben. Offenbar war er mit dem Bischof verwandt gewesen. Das steigerte sein Ansehen, und selbst in der guten Gesellschaft von Montreuil sur Mer dachte man besser von ihm. Der mutmaßliche Verwandte eines Bischofs war in der kleinen Nachahmung des Faubourg Saint-Germain, die es in jeder französischen Kleinstadt gibt, wohlgelitten. Alte Frauen behandelten ihn mit Auszeichnung,junge lächelten ihm zu. Eines Tages leistete sich die älteste der vornehmen Damen jenes Kreises, die bereits ein Altersrecht auf Neugierde hatte, die Frage:
»Sie sind wohl ein Vetter des verstorbenen Bischofs von Digne, Herr Bürgermeister?«
»Nein, gnädige Frau.«
»Aber Sie tragen doch Trauer um ihn.«
»Ich stand in meiner Jugend im Dienste seiner Familie.«
Blitze am Horizont
Allmählich erschlaffte aller Widerstand. An seine Stelle trat allgemeine aufrichtige Achtung. Es gab 1821 eine Zeit, in der in Montreuil sur Mer die Worte »der Herr Bürgermeister« nicht anders ausgesprochen wurden als 1815 die Worte »Seine bischöflichen Gnaden« in Digne.
Ein einziger Mensch in der Stadt entzog sich dieser allgemeinen Gefühlseinstellung und blieb, was auch Vater Madeleine tun mochte, widerspenstig, als ob ein unbestechlicher Instinkt ihn wach und mißtrauisch halte. Es scheint, als ob in gewissen Menschen ein geradezu tierischer Trieb sich geltend macht, der Antipathien und Sympathien hervorbringt und schicksalhaft den einen vom andern trennt, der zwei Spielarten des Typus Mensch gegeneinander scheidet wie Hund und Katze, Fuchs und Löwe.
Wenn Herr Madeleine ruhig, leutselig
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