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Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)

Titel: Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Hugo
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deutlich hervor und betonte die Magerkeit des armen Geschöpfs. Da das Kind immer fror, hatte es sich daran gewöhnt, die beiden Knie gegeneinander zu pressen. Seine Kleidung bestand aus einem elenden Fetzen, der im Sommer Mitleid, im Winter Grauen erregen mußte. Sie hatte nur ein zerschlissenes Stück Leinen auf dem Leibe, kein Stückchen Wolle. Stellenweise kam die bloße Haut zum Vorschein, und man konnte die blauen und schwarzen Flecken erkennen, die von Frau Thénardiers Mißhandlungen herrührten. Die nackten Beine waren gerötet. Die ganze Erscheinung des Kindes, sein Gehaben, der Klang seiner Stimme, die langen Pausen zwischen den Worten, sein Blick, jede Geste, alles verriet den einzigen Trieb, der das unglückliche Wesen beherrschte – die Furcht.
    Alles an ihr war Furcht; die Furcht ließ Cosette die Ellbogen an die Hüften pressen und die Fersen an sich ziehen, den Atem anhalten und eine Haltung einnehmen, in der sie möglichst wenig Raum brauchte. In der Tiefe ihrer Augen lag Verwunderung und Schrecken.
    Der Mann in dem gelben Rock ließ sie nicht aus den Augen.
    Plötzlich rief die Thénardier:
    »Nun, und das Brot?«
    Wie immer, wenn die Thénardier laut sprach, kam Cosette unter dem Tisch hervor. Sie hatte das Brot vollständig vergessen. So zog sie sich in die Verteidigungsstellung aller verängstigten Kinder zurück – sie log.
    »Der Bäcker hatte schon geschlossen.«
    »Dann mußtest du anklopfen.«
    »Ich habe geklopft, aber er hat nicht geöffnet.«
    »Ich werde ihn morgen fragen, ob das wahr ist. Wenn du gelogen hast, so sollst du etwas zu spüren bekommen. Jetzt gib mir die fünfzehn Sous zurück.«
    Cosette griff in die Tasche und wurde totenblaß. Die fünfzehn Sous waren nicht mehr da.
    »Vorwärts«, schrie die Thénardier, »hast du gehört!«
    Cosette wandte ihre Tasche um. Nichts. Wo mochte die Münze hingekommen sein? Die Kleine brachte kein Wort über die Lippen. Sie war wie zu Stein erstarrt.
    »Hast du es vielleicht verloren?« schrie die Thénardier, »oder willst du es mir stehlen?«
    Und sie streckte die Hand nach der Karbatsche aus, die in der Kaminecke hing.
    Jetzt fand Cosette die Kraft zu schreien.
    »Nein, ich tu’s nicht wieder!«
    Schon hatte die Thénardier die Karbatsche in der Hand.
    Der Mann in dem gelben Rock hatte in seine Westentasche gegriffen, ohne daß jemand darauf geachtet hätte. Übrigens waren die anderen Gäste mit Trunk und Spiel beschäftigt und kümmerten sich nicht um das, was vorging.
    Cosette drückte sich angstvoll in die Kaminecke und suchte ihre armen halbnackten Glieder nach Möglichkeit zu decken. Die Thénardier holte aus.
    »Einen Augenblick, Frau«, sagte der Mann, »aber da ist der Kleineneben etwas aus der Tasche gefallen und unter den Tisch gerollt. Vielleicht ist es die Münze, die Sie suchen?«
    Er bückte sich und schien nach etwas zu greifen.
    »Richtig, da ist es«, sagte er und reichte die Münze der Thénardier.
    »Allerdings …«
    Cosette kroch unter den Tisch zurück, in »ihren Winkel«, wie es die Thénardier nannte; ihr großes Auge war erstaunt auf den Fremden gerichtet und nahm einen Ausdruck an, den es bisher nicht gekannt hatte.
    »Wollen Sie nicht etwas essen?« fragte die Thénardier den Gast.
    Er antwortete nicht. Offenbar dachte er tief nach.
    Eine Tür ging auf, Eponine und Azelma traten ein.
    Die Kleinen waren wirklich hübsch und glichen eher Bürgermädchen als Bauerntöchtern; die eine hatte glänzendes, kastanienbraunes Haar, die andere lange, schwarze Zöpfe, die auf den Rücken herabhingen; beide waren lebhaft, sauber, frisch, und es war eine Freude, sie anzuschauen. Sie waren warm und so geschickt gekleidet, daß die Dicke des Wollstoffs nicht ungeschmeidig wirkte. Auch bewies das sichere Auftreten der Kinder, daß sie nicht schüchtern waren. Als sie eintraten, hatte die Thénardier mürrisch, aber doch voll zärtlicher Liebe gesagt:
    »Ach, da seid ihr ja wieder!«
    Dann hob sie eine nach der andern auf den Schoß, strich ihnen die Haare aus dem Gesicht, glättete die Schleifen und setzte sie sanft, wie es nur Mütter tun, wieder auf die Erde.
    Die beiden Mädchen hatten eine Puppe mitgebracht, mit der sie aufs anmutigste spielten. Zuweilen blickte Cosette von ihrer Strickarbeit auf, ihr Blick war düster.
    Eponine und Azelma achteten nicht darauf. Für sie war Cosette wie ein Hund. Diese drei Mädchen zählten zusammen keine vierundzwanzig Jahre, und doch waren sie schon eine Kopie der menschlichen

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