Les Misérables / Die Elenden: Roman (German Edition)
Begeisterung.
Inzwischen hatten die Zecher begonnen, ein zotiges Lied zu singen, und sie brüllten so laut, daß die Decke davon zitterte. Thénardier stimmte ein und feuerte sie an.
Wie die Vögel aus allem ein Nest zustande bringen, machen Kinder aus den unmöglichsten Dingen eine Puppe. Während Eponine und Azelma die Katze als Fräulein herausputzten, bekleidete Cosette ihren Säbel. Dann nahm sie ihn auf den Arm und wiegte ihn in den Schlaf.
Die Thénardier war wieder zu dem Gelben zurückgekehrt. Mein Mann hat recht, dachte sie, vielleicht ist der Kerl ein Rothschild. Die Reichen sind oft so schrullig!
»Mein Herr …«, sagte sie.
Auf diese Anrede wandte sich der Fremde um. Bisher hatte die Thénardier ihn »guter Mann« angeredet.
»Sehen Sie, mein Herr«, fuhr sie fort und setzte ihre süßlichste Miene auf, die noch abstoßender wirkte als ihre wütende, »ich will ja gern, daß das Kind spielt, ich hab gar nichts dagegen, aber es geht doch nur einmal, weil Sie freigebig sind. Verstehen Sie, die hat nichts, darum muß sie arbeiten.«
»Ach, sie ist wohl nicht Ihr Kind?«
»Beileibe nein, Herr, es ist eine kleine Arme, die wir aus purem Mitleid aufgenommen haben. Und ein wenig blöd ist das Kind auch. Wahrscheinlich hat es Wasser im Kopf. Sehen Sie nur den großen Kopf an! Wir tun für sie, was wir können, aber wir sind nicht reich. Da ist es leicht, Briefe in ihre Heimat zu schreiben, man kriegt doch keine Antwort. Schon sechs Monate! Die Mutter muß gestorben sein.«
»So«, meinte der Mann und versank wieder in seine träumerische Stimmung.
»An der Mutter war auch nicht viel«, fuhr die Thénardier fort. »Sie hat das Kind im Stich gelassen.«
Während dieses Gesprächs hatte Cosette, der ein Instinkt zu sagen schien, daß von ihr die Rede war, kein Auge von der Thénardier gewandt. Vielleicht schnappte sie das eine oder andere Wort auf.
Endlich gab der »Millionär« dem Drängen der Wirtin nach und willigte darein, ein Abendbrot zu bestellen.
»Was befehlen der Herr?«
»Brot und Käse.«
Er ist doch ein Schnorrer, dachte die Thénardier.
Die Trinker waren noch immer bei ihrem Gesang, und auch Cosette summte unter dem Tisch vor sich hin. Plötzlich stockte sie. Sie hatte sich umgedreht und bemerkte die Puppe der kleinen Thénardiers, die zugunsten der Katze vernachlässigt worden war und am Boden lag.
Sie ließ ihren Säbel fallen, der doch immer nur ein halbes Kind abgeben konnte, und blickte zunächst scheu um sich. Die Thénardier stand bei ihrem Mann und flüsterte, Ponine und Zelma spielten mit der Katze, die Gäste soffen und grölten; niemand achtete auf sie. Es hieß keinen Augenblick verlieren. Sie kroch auf Händen und Füßen unter ihrem Tisch hervor, versicherte sich noch einmal, daß niemand aufpaßte, glitt dann rasch zu der Puppe hin und ergriff sie. Im nächsten Augenblick war sie wieder auf ihrem Platz; sie hatte sich so gesetzt, daß ihr Schatten auf die Puppe fiel. Das Vergnügen, mit einem so köstlichen Gegenstand zu spielen, war für sie offenbar so außerordentlich, daß sie sich mit höchstem Eifer daranmachte.
Niemand hatte sie bemerkt, nur der Fremde, der langsam sein dürftiges Mahl verzehrte, beobachtete sie.
Dieses Glück dauerte fast eine Viertelstunde. Aber so vorsichtig Cosette auch gewesen war, sie bemerkte nicht, daß ein Fuß der Puppe aus dem Schatten hervorstand und daß das Feuer des Kamins grell darauf fiel. Dieser hellbeleuchtete, rosige Fuß lenkte schließlich auch Azelmas Blicke auf sich, und sie sagte zu Eponine:
»Aufgepaßt!«
Verblüfft hielten die beiden Kleinen in ihrem Spiel inne. Cosette hatte gewagt, ihre Puppe anzugreifen.
Eponine stand auf und ging, ohne die Katze loszulassen, zu ihrer Mutter. Sie zupfte die Thénardier am Rock.
»Laß mich in Ruhe«, sagte diese. »Was willst du denn?«
»Sieh doch, Mutter!«
Und sie deutete auf Cosette.
Das Kind, von dem Genuß dieses seltenen Besitzes ganz berauscht, merkte nichts.
Das Gesicht der Thénardier nahm einen wütenden Ausdruck an. Ihr beleidigter Stolz war noch wilder als ihr Zorn. Cosette hatte sich unterstanden, den ungeheuerlichen Abstand nicht zu wahren, der sie von der Familie ihrer Brotherren trennte. Sie hatte diePuppe der Fräulein angetastet. Eine Zarin, die einen Muschik dabei ertappt, wie er das blaue Ordensband des Zarewitsch probiert, könnte nicht tiefer empört sein.
Heiser vor Wut schrie sie:
»Cosette!«
Cosette nahm die Puppe und legte sie mit einer
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