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Lesebuch für Katzenfreunde

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Titel: Lesebuch für Katzenfreunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: diverse Autoren
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Sturm auf. Der erste in diesem Jahr.
    Joyce Carol Oates
    Mahalaleel
    Und dann war sie plötzlich wach.
    Unten, sehr fern, aber doch auf der Frontseite des Hauses, schrie etwas und verlangte, eingelassen zu werden.
    Sie konnte es deutlich hören: Es schrie, bettelte, kratzte an der Tür, um eingelassen zu werden.
    Leah schüttelte ihren warmen, schweren, hypnotisierenden Schlaf ab und wurde sofort an die Oberfläche heraufgeholt, wo der Sturm noch heulte und ein Wesen kläglich um Einlaß bettelte. Ohne zu zaudern stieg sie nackt aus dem Bett und schlüpfte in ihren seidenen Morgenrock – eins der wenigen Kleidungsstücke, die von ihrer Aussteuer vor sechs Jahren noch übriggeblieben waren, der aber jetzt recht verschlissen und an den Manschetten etwas angeschmutzt war. Ihr Mann streckte den Arm nach ihr aus und murrte im Schlaf ungehalten und herrschsüchtig ihren Namen, aber sie gab vor, es nicht zu hören.
    Sie zündete eine Kerze an, schirmte die Flamme mit der Hand und ihrem Körper ab, damit Gideon nicht gestört würde, und eilte barfuß aus dem Zimmer. Sobald sie im Flur war, konnte sie das Geschöpf ganz deutlich hören. Es war kein menschlicher Ruf, sprechen konnte es nicht, doch Leah verstand es sofort.
    Und so ging Germaines Mutter hinunter, um Mahalaleel die Tür zu öffnen: nackt unter dem weißseidenen Morgenrock, der bis zu den Knöcheln hinabreichte, eine große Frau, eine ungewöhnlich große Frau, groß und stark und kräftig, ihre langen Beine herrlich muskulös, ihr Hals eine schlanke Säule. Ihr dicker Zopf leuchtend dunkelroter Haare fiel schwer zwischen den Schulterblättern bis aufs Kreuz hinunter: eine prachtvolle Riesin, über deren tiefliegende Augen und die lange, gerade, römische Nase und die leicht geöffneten, vollen Lippen schimmernd und schmeichelnd das Kerzenlicht flackerte.
    »Ja?« rief Leah, während sie die breite Mahagonitreppe hinunterging. »Wer ist da? Wer ist da draußen?«
    Sie eilte treppab, ohne auf die alten Wandteppiche zu blicken, die in müden, verblaßten Falten niederhingen, auch nicht auf die Nischen in der steinernen Wand, wo Marmorbüsten – wo Adonis, Athene, Persephone und Cupido – sich seit Jahrzehnten staubige Masken zugelegt hatten und jetzt eher Mulatten unbestimmbaren Geschlechts glichen; im ersten Stock ging sie auf dem Treppenabsatz an der merkwürdigen alten Trommel aus dem Bürgerkrieg vorbei, die Raphael Bellefleur nach seinem Tode mit seiner eigenen Haut hatte bespannen und mit Messing, Gold und Perlmutter hatte einfassen lassen (armer Großvater Raphael, der die Huldigung von Generationen erwartet hatte, und jetzt beachtete ihn selbst das müßigste Kind nicht mehr); barfuß eilte sie weiter, wobei ihre Fersen sich tief in den verblichenen roten Teppichläufer gruben, während sie die flackernde Kerze in die Höhe hielt und einzelne Locken des dunkelroten, üppigen Haars ihre Stirn umspielten und in den großen Augen unverständliche Tränen glänzten.
    »Ja? Wer ist da? Wer ist da? Ich bin Leah, ich komme schon und lasse dich ein!«
    All das Gescharre und Gejammer an der Haustür und Leahs kräftiger Zuspruch riefen einen derartigen Aufruhr hervor, daß die übrigen Schloßbewohner – die wegen des Unwetters schon wachlagen oder nur mit Unterbrechungen schliefen – im Nu aus dem Bett waren. In jenen ersten Jahren waren die Zwillinge immer innigst auf ihre Mutter eingestimmt, vor allem Christabel: Jetzt schlüpften sie an Lettie vorbei und rannten – der kleine Bromwell wimmernd und seine Brille mit der Metallfassung zurechtstupfend, und Christabel weinend und zerzaust, im Nachthemd, das ihr auf der einen Seite von der schmalen Schulter rutschte –, rannten aus dem Kinderzimmer im ersten Stock und den Korridor entlang. »Mutter, wo bist du! Mutter, will ein Gespenst ins Haus?« Und natürlich sprangen Vettern und Kusinen, Lilys und Ewans lärmende Kinder, aus dem Bett und spähten aneinandergedrängt mit aufgerissenen Augen über das Geländer; und Ewan selbst, groß wie ein Bär und verärgert, das breite Gesicht rot angelaufen, mit wild um den Kopf stehenden grauen Haaren, als wäre ein Schwammspinner hineingeraten und hätte darin seinen erstaunlichen Kokon gesponnen; und Tante Lily – hinterdrein schlurfend, einen Kaschmirschal um die Schultern, ihre hängenden Brüste umklammernd, das bleiche, müde Gesicht so verschwommen wie ein verwischtes Aquarell –, Tante Lily zupfte ihren Mann am Arm: »Oh, was machen sie denn jetzt, oh,

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