Lesebuch für Katzenfreunde
den Fingernägeln auf mich loszugehen.«
Lucinda entwand sich seinem Griff und rannte davon. Marc hatte ihr gegenüber noch nie die Geduld verloren und auch noch nie so rauh zu ihr gesprochen. Sie wußte nicht, wo sie ihren Schmerz verbergen konnte. Tränen würgten sie, und sie floh ziellos in die dunklen Straßen. Der Wind hob ihr Haar hoch, und sie hatte das Gefühl, in eine Schale voll Sterne zu fallen…
Das wurde alles zuviel: diese seltsame Wasserfurcht und ihre sich wandelnden Gewohnheiten. Wie konnte sie sich denn gegen diese Krankheit wehren und gleichzeitig Entscheidungen treffen, die ihr ganzes Leben betrafen? Würgende Panik ergriff sie… Ihre Sicht trübte sich, ihre Gedanken, verwirrt und ohne Zusammenhang, erkannten nichts Vertrautes mehr. Die Straßen waren länger, die Häuser höher in der Nachtluft. Sie verirrte sich, taumelte durch unbekannte Gassen. Blind rannte sie dem Ufer entlang, stolperte über unebene Steinplatten, stieß eine Bierdose beiseite. Irgendwo verlor sie ihre Tasche, und ihre hübschen Sachen rollten aufs Pflaster. Irgendwo in der Nähe des hochaufragenden Obelisken – verschwand sie einfach.
Alle Zeitungen berichteten darüber:
BERÜHMTES FOTOMODELL VERSCHWUNDEN
Sie brachten Fotos von ihr im langen Ozelotmantel mit dem Luchskragen. Sie schrieben spannende kleine Geschichten über ihre Karriere und über das schwere Leben eines Fotomodells. Die Polizei fand ihre Tasche und ein paar Dinge daraus in der Nähe der Nadel Kleopatras, und Froschmänner durchsuchten die schlammigen Wasser der Themse. Kleine Jungen fanden bei Ebbe ihren Ledergürtel.
Jedermann kam zum gleichen traurigen Schluß. Um Kleopatras Nadel, vom Nachtnebel umhüllt, rankten sich viele Geschichten von Selbstmorden und geheimnisvollen Begebenheiten.
Marc war außer sich. Er veranstaltete eine schwermütige Abschiedsvorstellung mit Lucindas Fotografien, da eine Beerdigung nicht möglich war. Ihr schönes Gesicht sah ihn von den Wänden an; die goldgefleckten Augen und das silberne Haar wirkten feenhafter denn je.
Dann nahm Marc die Arbeit wieder auf und versuchte, sich mit gehäuften Aufgaben zu betäuben. Sein neues Modell, Vicky, war indes hoffnungslos. Er fand die Blick- und Beleuchtungswinkel nicht heraus, die für ihr Gesicht richtig waren. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen fanden sie beide, Marc solle die Agentur um jemand anders bitten.
Er öffnete Vicky, als sie ging, die Tür, und eine schlanke, silberweiße Katze mit glänzenden grünen Augen kam herein. Sie schritt so dezidiert einher, als gehöre das Atelier ihr. Sie kletterte auf die Estrade und begann, ihr flauschiges Fell zu pflegen.
»Lieber Himmel, welch eine prächtige Katze«, sagte Vicky. »Gehört sie Ihnen?«
»Nein, ich habe sie noch nie gesehen. Es muß eine wilde Katze sein, aber sie scheint sich hier auszukennen.«
»Mir scheint, Sie sind im Begriff, adoptiert zu werden«, sagte Vicky und strich den Saum ihrer Strümpfe gerade. »Sie wissen doch, Katzen wählen ihre Herren immer selber, nicht umgekehrt.«
Marc grinste kurz. »Wirklich? Das wußte ich nicht. Ade, Vicky. Danke fürs Kommen. Es tut mir leid, daß nichts draus wurde.« Als er seine Kameras wegräumte, spürte er, wie die Katze ihn unverwandt anstarrte und jede seiner Bewegungen beobachtete. »Mir geht es im Augenblick nicht besonders gut«, sagte er plaudernd zu ihr. »Ohne meine geliebte Lucinda scheine ich nichts mehr fertigzubringen.«
Die Katze sprang von der Estrade hinunter und strich mitfühlend um Marcs Beine, den Rücken graziös gekrümmt.
»Du bist ein hübsches kleines Ding«, sagte Marc und ließ sich auf ein Knie nieder, um das weiche Fell zu befühlen. »Möchtest du ein wenig Milch?«
Ein leises kehliges Schnurren fing zu vibrieren an; sein Ton war fröhlich und unerwartet.
»Allerbeste Sahne?« fragte er.
Die Katze reckte sich empor, legte eine Pfote auf sein Knie und schmiegte ihr Gesicht mit der kleinen feuchten Nase an seines. Es kitzelte, und Marc mußte lachen. Das Licht der Atelierlampen umgab das Katzenfell mit einem silbrigen Schein; Lichtfunken schossen in den Raum.
Die künstlerischen Möglichkeiten raubten Marc plötzlich den Atem. Diese freundliche, intelligente Katze war ein wundervolles Geschöpf.
»Ich glaube, ich nenne dich Cindy«, sagte er und hob mit sanftem Finger das pelzige kleine Kinn. »Willst du mein neues Modell sein? Ich brauche dich.«
Die goldgefleckten Augen wurden dunkler und schauten ihn mit unverhehlter
Weitere Kostenlose Bücher