Lesereise - Afrika
Schule gelernt habe. Die Fünf-Minuten-Lektüre gibt Einblick ins arabische Trauma mit dem Erzfeind Israel. Ganz oben steht das Wort »agony«, dann »ally«, dann »arab unity«, später »deter«, »enemy reaction«, »explicit action«, »make use of nuclear weapon«, »mine«, »murder«, »nervous breakdown«, »occupied country«, »ruin«, zuletzt »zealot« und »zero«. Immerhin neun Vokabeln stehen da, die nichts oder auf den ersten Blick nichts mit Niederlage und Sieg zu tun haben, wie: »inhale« und »look« und »remember«.
Nachdem Rugal gegangen ist, wird der Blick frei auf eine Frau. Wieder sitzt sie vier Tische entfernt. Sie ist der heimliche Grund, warum ich heute morgen hierher zurückkam. Wie gestern liest sie in einem Band von Pablo Neruda, »Veinte poemas de amor y una canción desesperada«, Zwanzig Liebesgedichte und ein Lied der Verzweiflung. Der Titel hatte mich sofort beruhigt. Weil ich mir einbildete, es handelte sich bei der Leserin um jemanden, der gern von der Liebe liest und zugleich weiß, dass sie in den Abgrund führt, wenn man nicht rechtzeitig damit aufhört. Selten kenne ich mich aus bei Frauen, doch diesmal ahne ich das Richtige. Ich reiche ihr eine Zeile aus einem Neruda-Gedicht – »Mi voz buscaba el viento para tocar su oido«, »und meine Stimme suchte den Wind, um ihr Ohr zu berühren« –, und sie sagt: »Terrífico!« Marcela kommt aus Chile, hat letzten Sommer ihr Psychologiestudium abgeschlossen, reist durch Ägypten und ist einverstanden, dass wir uns abends wiedersehen. Wir wollen von Pablo reden und seinen genialen Liebesschwüren für Matilde Urrutia, seine Frau.
Ich streune durch Assuan, wie ein Hund nach Fressen sucht, suche ich nach einer Geschichte. Eben was die Neugier sättigt, den Hunger nach den Gedanken anderer. Wobei jede systematische Suche zu vermeiden ist. Der Status eines Herumtreibers scheint am geeignetsten. Sich treiben lassen, getragen vom Zufall, dem Glück, dem Pech, dem brennenden Verlangen (was wiederum nicht zu brennend sein sollte) nach Beute. Wie ein Seismograf dahinwandern, eben das zu Herzen nehmen, was Joseph Conrad empfahl, als er gefragt wurde, was das Leben und die Kunst einem beibringen sollten: »To make you see«, sehen lernen. Deshalb allein reisen. Das macht verwundbarer, durchlässiger, süchtiger nach Kontakt mit dem Fremden. Weil nichts an die Heimat erinnert, weil alles anders ist, weil einer verdammt einsam ist. Ryszard Kapuściński erwähnt in einem seiner Tagebücher, dass er, wenn unterwegs, keine Briefe schreibt und nie nach Hause telefoniert. Um nur in der einen, jetzt vorhandenen Welt zu leben.
Kurz nach Mittag – ich sitze gerade auf dem Eselskarren von Ayman, auch er Taxifahrer – kommen wir an einem kleinen Restaurant vorbei, direkt neben der Straße. Ich steige ab. Kaum habe ich Platz genommen, stößt der Kellner einen lauten Warnschrei aus, alle elf Gäste beugen sich blitzschnell über ihr Essen und draußen fährt ein orangefarbener Tankwagen vorbei. Der Anti-Insekten-Sprühwagen ist unterwegs. Als sich der Nebel hebt, sitzt neben mir ein Mann, der zwischen Suppenteller und einem Stoß Bücher in ein großformatiges Heft schreibt. Mister Gammal lädt mich an seinen Tisch. Der Mann verdient seinen Unterhalt als Übersetzer, überträgt gerade Camus’ »The Outsider« (»Der Fremde«) aus dem Englischen ins Arabische. Unter anderem hat er Kafkas »Prozeß« und Alex Haleys »Roots« veröffentlicht. Er müsse oft heulen beim Übersetzen. Literatur begreife er als Therapie, um an seine verstecktesten Gefühle ranzukommen. Und um alle die Leben zu leben, für die er keine Zeit hat.
Gammal schwärmt von der Schönheit seiner Sprache und der englischen, erzählt, dass ihn die Arbeit mit Buchstaben mehr strukturiere, ihm mehr inneren Halt gebe als alles andere: »Mindestens einen armen Satz muss ich jeden Tag schreiben.« Natürlich sei er allein: »Hier liest kaum einer, die Leute wollen sich nicht verstören lassen im Kopf.« Seine Dankbarkeit der Literatur, der Weltliteratur, gegenüber. Ihr verdanke er die Kraft, sich dem geistlosen Alltag zu entziehen. Im Grunde hätten wir nur ein Problem, meint er: »boredom« , Langeweile. Gammal sagt den mutigen Satz: »Auf gewisse Weise bin ich zu feig für ein anstrengendes Leben. Wie gut, dass ich bei anderen nachlesen kann, was mir entgeht.«
Immer wieder habe er Probleme mit der Zensur. In einem moslemischen Land kann vieles nicht sein, weil vieles nicht sein
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