Lesereise - Afrika
Ach, mach einen Umweg zu meinem Dorf, rück die Schöne heraus und verschwinde. Dass nichts wieder uns trennt.«
Das Lied ist keine zwei Minuten zu Ende, da drängen sich drei Männer ins Haus, strengste Augen, Vollbart, die hageren Körper nur mit der galabeya , dem langen weißen Umhang, bekleidet. Mit zischender Stimme, schnell und abrupt, reden sie auf den Hausherrn ein. In Arabisch. Einer der Umstehenden flüstert mir zu: »Muslim Brotherhood«, jene fundamentalistische Vereinigung, die Mubarak beseitigen will, die gelegentlich auf Touristen zielt und von einem trostlosen Gottesstaat fantasiert. Aber die drei schießen nicht, gestikulieren nur wütend, zeigen irgendwann auf mich, zeigen auf die Musiker, verschwinden. Wieder im Laufschritt, noch immer wütend.
Eiskalte Stimmung, in Sekunden vom fröhlichen Ringelreihen zur Trauerfeier. Die Frauen machen Zeichen, dass ich gehen soll, sofort. Angst in ihren Gesichtern. Instinktiv setze ich mich in Bewegung, Erklärungen gibt es nicht, wir haben nicht genug Worte einer gemeinsamen Sprache, um uns ausreichend zu verständigen. Zwei Burschen begleiten mich ein Stück. Ihre Versuche, den seltsamen Vorfall zu erhellen, scheitern ebenfalls. Immer wieder machen sie mit den Fingern ein Kreuz und halten es vor mein Gesicht. Islam gegen Christentum? Ist es das, was sie sagen wollen? Ich weiß es nicht. Ich bin nicht Christ, nicht Moslem, nur zufällig anwesend. Die zwei scheinen wohlgesinnt, »tomorrow« soll ich wiederkommen, den Whisky nicht vergessen und meine Jeans eintauschen gegen eine Trommel.
Morgen werde ich nicht kommen, aber ich werde den Grund der plötzlichen Totenstille und meiner Vertreibung wissen: Mord und Totschlag, unfassbare Dummheit, Eifersucht und heilloser Wahn.
Kurz vor neun bin ich zurück in dem Restaurant, in dem ich heute früh ein Rendezvous mit Marcela vereinbarte. Und sie sitzt da und liest. Und lächelt. »Heimweh nach neuen Menschen«, schrieb Max Frisch einmal. Wie pathetisch, wie wahr. Einmal wieder neu sein, einmal wieder jemanden treffen, der noch nicht glaubt, einen zu kennen. Ich spüre plötzlich, dass mir die Nähe dieser Frau guttun wird. Ihre Worte werden mich wärmen. Wie bereichernd ist Reisen. Und in welche Abgründe von Einsamkeit reißt es. Wie gut dann, wenn jemand vorbeikommt, der jene Einsamkeit heilt. Kurzfristig allemal. Als wir uns begrüßen, will ich mir einbilden, dass Marcela das alles weiß. Noch ein Plus, denn nicht vieles ist anstrengender als eine Frau, die mit einer Überdosis Illusionen durchs Leben schleudert. Weil ich, der Mann, nie mithalten kann mit den Hirngespinsten. Schon vor meinem ersten Fehler habe ich verloren.
Nach zwei Stunden machen wir uns auf den Weg zu meinem Hotel. Wir müssen das nicht verhandeln, es ergibt sich. Marcela fordert keine Versprechen, nicht einmal fallen die Worte »ewig« und »Ewigkeit«. Fest steht, dass sie morgen zurück nach Kairo muss und wir nicht viel Zeit haben. Also halten wir Ausschau nach dem, was menschenmöglich ist. Und das wäre Hingabe für eine Nacht.
Beim Frühstück erzähle ich Marcela von den Nubiern und den barbus , den Bärtigen. Jetzt erst traue ich mich, davon zu berichten, wollte die Mühelosigkeit zwischen uns beiden nicht belasten mit einer Geschichte von den Narren Gottes, die alles Leichte besudeln. Seltsam, im Augenblick des Erzählens überkommt mich ein Gefühl der Dankbarkeit. Auch den Narren gegenüber. Weil ihre Wut eher anspornt, eher verpflichtet zu Innigkeit und Freude.
Als Marcela im Zug Richtung Norden sitzt, laufe ich zurück zum suq . Jetzt getrieben von der drängenden Neugier nach Aufklärung. Warum kamen die drei und warum der Schrecken in den Gesichtern der Nubierfrauen? Und mitten im Markt – es gibt keine zuverlässigere Informationsquelle – stoße ich auf eine Polizeiabsperrung. Umstellt von Hunderten. Und ich höre die grausige Story: Gestern Abend, circa siebzehn Uhr, betrat eine moslemische Frau den Juwelierladen eines Kopten, um etwas zu kaufen. Irgendwann fehlt ein Schmuckstück. Und sofort verdächtigt der Christ die Moslime des Diebstahls. Er schließt das Geschäft und fordert die Kundin auf, sich auszuziehen(!). Die Frau gehorcht der bedrohlichen Aufforderung, alles umsonst, nichts versteckt, nichts zu finden. Sie verlässt den Laden und informiert ihre vier Brüder, alle Mitglieder der »Muslim Brotherhood«. Und die kommen zurück, ein Blutbad fängt an, der Juwelier und ein Moslem-Bruder sterben, der
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