Lesereise - Afrika
darf. Ewige Wahrheiten versus die ewige Wahrheit, dass nichts ewig wahr ist. Bedrohliche Wahrheiten vor sich und vor anderen zu verheimlichen kontra das drängende Verlangen, mehr Wahrheiten über sich und die anderen zu erfahren. Ich erwähne, dass ich in einer Buchhandlung in Kairo Henry Millers »Wendekreis des Steinbocks« entdeckt hätte, ein Buch, in dem jeder zweite Absatz wie ein phosphoreszierender Blitz auf den Leser niedergeht. Wie jener, den ich mir rausgeschrieben hatte: »Ich musste mir langsam und schwankend meinen Weg ertasten, um nicht zu stürzen und zertreten zu werden. Ich musste mich nach und nach an die Strafen gewöhnen, die die Freiheit mit sich bringt.«
Ja, das passiere bisweilen, dass die Zensur provozierende Bücher übersehe. Oder übersehe, die provozierenden Stellen zu streichen. Den amerikanischen Autor nennt Gammal, er sagt es auf Deutsch, »einen Faust-Menschen«, einen eben, der bereit war, den Eintrittspreis zu zahlen für seine Freiheiten.
Ich frage ihn nach dem Zusammenhang zwischen Religion und wirtschaftlicher Rückständigkeit. Gammal sieht da keine Verbindung. Wären die Deutschen, die Amerikaner oder die Japaner Moslems, sie wären um nichts weniger erfolgreich als jetzt als Christen, Schintoisten oder Atheisten. Er verweist auf Malaysia, das – obwohl mehrheitlich moslemisch – seit Jahren boomt. Stehe doch kein Wort im Koran, das Armut als löblich ausweise. Der Dreck, die staatliche Willkür und das Elend der Dritten Welt hätten andere Gründe. Natürlich die Geschichte, natürlich die Kolonisation. Aber am entscheidendsten: die »Anziehungskraft« des Misserfolgs, die »Ansteckung« der Umgebung, die jahrhundertelange Gewöhnung an ein Leben im Sumpf, das raube die Kräfte zur Erneuerung.
Die Amerikaner würden es »neighbourhood pride« nennen, den Stolz auf die Nachbarschaft. Weil sie sauber ist, weil man weiß, dass ein Rechtssystem funktioniert, weil jeder mit der stillschweigenden Vereinbarung einverstanden ist, dass jeder für die Umgebung verantwortlich ist. Schwindet der Stolz, schwindet die Aufmerksamkeit. Irgendwann landet der Müll im Vorgarten, verwechseln Anwohner die Büsche mit öffentlichen Toiletten, beschließen alle miteinander, »blind« zu werden.
Man merke es an sich selber, so der Übersetzer. Wie man reflexartig nach einem Abfalleimer sucht. Und wie dieser Reflex immer rarer wird. Weil nirgends ein Abfalleimer herumsteht. Und weil keinem Menschen zumutbar ist, mit seiner eigenen Mülltonne herumzurennen. Folglich rein in den Straßengraben, raus aus dem Fenster, rüber über den nächsten Zaun. Und zuletzt, nicht mehr rein, nicht mehr raus, nicht mehr rüber, sondern einfach fallen lassen. Die Welt als Abfallgrube.
Was die Situation in einem Land wie Ägypten verschärfe, meint Gammal, ist die Tatsache, dass kein einziger Ägypter lebt, der sich an ausdauernde Zeiten des Stolzes erinnern könne. Nie lang genug, um einen tatsächlichen Umschwung auszulösen. Zu oft Demütigung und Dreck. Und der hilflose Verweis auf die glorreiche, längst verglühte Vergangenheit.
Mister Gammal ist mein erster Moslem, der ohne Allah zurechtkommt. Einer, der Zweifel aushält und sich nicht jede seiner Ängste mit der Halluzination vom grandiosen lieben Gott wegdrückt. Wie bewundernswert. Weil er viel mehr Einsamkeit aushalten muss als ein Gottloser bei uns.
Am frühen Abend wandere ich weit hinaus, afrikanische Städte strecken sich unendlich. Irgendwann höre ich Musik, Livemusik, ich nähere mich. Und kaum sehen sie mich, winken sie mich heran. In einem Haus und in der Straße davor wird getanzt. Vor Ort wohnen vor allem Nubier, Schwarzafrikaner, die hierher verfrachtet worden waren, bevor der Assuan-Stausee ihre fünfundvierzig Dörfer überflutete. Die Musik kommt von zwei schweißgebadeten Trommlern. Sonst nichts, nur noch das Klatschen der Hände, das Gelächter, die wild rotierenden Leiber der Frauen und Männer. Ich frage nach dem Grund des Festes und sie sagen: »no reason.« Man sieht den Unterschied, die Nubier sind »afrikanischer« als die Ägypter, sinnlicher, vertrauensseliger in ihre Körper, heidnischer. Und die Trommeln werden leiser, und ein mächtiger Kerl stimmt ein Liebeslied an von Esmaranaya, der fernen Geliebten in Kairo, die blühe wie eine Rose: »Und deine Augen sind wie ein Boot, das mich entführt und meine Traurigkeit vertreibt. Nur Gott weiß, welche Gefühle mich quälen. Komm schneller, Zug, der du nach Süden fährst.
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