Lesereise Finnland
Hauswand gestapelt. Und für den Fall der Fälle hängt die Seenkarte als Orientierungshilfe gerahmt an der Wand – Maßstab 1 : 50.000. Wen es auf den See hinauszieht, der muss sie vom schützenden Glas befreien und mit auf große Fahrt nehmen.
Irgendein Vormieter hat einen Zettel an die Pinnwand in der Küche geheftet: »Achtung, auf dem See hinter 1. und 2. Landzunge in östlicher Richtung nach etwa vierhundert Metern Ende. Nur schmaler werdende Buchten. See setzt sich nach 3. Landzunge fort.« Man denkt offenbar aneinander, hilft sich mit Tipps und Erfahrungsberichten, ohne sich je begegnet zu sein.
Jeder Meter Seeufer sieht hier aus wie der nächste. Erst Schilf, dahinter Birken, dazwischen ein paar unterschiedlich hohe Tannen, manchmal ein kleiner, lehmbrauner Strand, nie Briefkästen, selten am Ufer ein Steg und irgendwo in der Ferne ein Schornstein. »Ihr fahrt zweimal um eine Kurve, lasst nur eine Landzunge hinter euch und habt bereits die Orientierung verloren«, hat Ferienhausvermieter Vesi Karpinnen aus Savonlinna noch gewarnt, als die Teilzeit-Aussteiger am Vormittag Hausschlüssel und das spionageromanreife Faltblatt mit der Anfahrtsbeschreibung vorm Start in die Wildnis in seinem Stadtbüro abgeholt haben.
Im Gewirr des Seengebiets in Ostfinnland, dessen Fläche viertausendvierhundert Quadratkilometer ausmacht, ist Verirren fast zu erwarten. Auf den Waldwegen sowieso, auf dem Wasser ebenfalls. Sogar einen Kompass mitzunehmen, hat Vesi seinen Gästen nahegelegt, ehe sie anstelle eines Ruder-Kurzausflugs vom Basislager Ferienhaus aus womöglich tagelang umherpaddeln müssten und irgendwann erst im fernen Kuopio wieder aus dem Labyrinth herauskämen. Er hatte gelacht und offengelassen, wie ernst der Rat gemeint ist.
Verhungern müssten selbst verirrte Ruderer nicht. Das Saimaa-Seengebiet gilt als außergewöhnlich fischreich. Ein Anglerwettbewerb, der hier alljährlich im Juni stattfindet, lockt Teilnehmer aus ganz Finnland an – weniger wegen der Fische, mehr wegen des ausgeschriebenen Preises für den erfolgreichsten Angler. Es ist die einzige Zeit des Jahres, wo man auf den Waldwegen und auf dem Wasser andere Menschen trifft und sich gegenseitig den Weg weisen kann.
»Der Hauptpreis für den dicksten Fisch ist ein Grundstück am See. Komplett mit bezugsfertigem Sommerhaus. Gestiftet vom Fischereiverband«, erzählt Karpinnen. Über neunhundert Boote dümpeln dann auf dem ansonsten menschenleeren Kesälahti-See: »Wer binnen fünf aufeinanderfolgender Wettbewerbsjahre den insgesamt dicksten Fisch aus dem Gewässer gezogen hat, bekommt diesen Hauptpreis.« Undenkbar in Mitteleuropa, wo Angler zwar durchaus wettbewerbswütig sind, sich normalerweise aber mit Blechpokalen und einem Schwarzweißfoto in der Lokalzeitung zufriedenstellen lassen. Im Saimaa-Seengebiet ist das anders. Der Name des Gewinners bleibt dennoch Schall und Rauch. Vesi Karpinnen hat ihn längst vergessen. Nur an den Fisch kann er sich erinnern: »Beim letzten Mal war’s eine Forelle, und gewogen hat sie zweitausendsiebenhundertdreißig Gramm!«
Das Animationsprogramm am Rande der Einsamkeit beschränkt sich ansonsten auf Selbstinszeniertes. Dart Spielen zum Beispiel – Pfeile Werfen auf eine Scheibe, die an der Außenwand des Blockhauses befestigt ist. Aufs Schwimmen im klaren Seenwasser oder aufs Holzhacken fürs abendliche Kaminfeuer oder für den Ofen der obligatorischen Sauna. Aufs Kochen oder Vor-sich-hin-Träumen, auf Lesen, Schweigen, Abschalten. Das Auto parkt vorm Haus und ist doch unendlich weit weg. Wozu etwas unternehmen, wozu wegfahren? Schließlich müsste man – so man wegführe – auch zurückfinden und das strengt viel zu sehr an. Also dableiben, weiter abschalten.
Die betagte Membran des Radiolautsprechers quetscht immer neue karelische Volksweisen in den Raum, während auf dem Herd bereits Pfannkuchen brutzeln, die darauf warten, dick mit selbstgepflückten Blaubeeren bestrichen zu werden. Finnischer Moltebeerenlikör steht als »Verteiler« griffbereit. Eine verirrte Mücke sirrt durchs Lampenlicht.
Harziger Geruch macht sich breit, der von den geschälten Kiefernstämmen ausgeht, aus denen das Haus zusammengezimmert ist.
Die Füße baumeln spätabends vom Steg herunter ins wohligwarme Wasser. Sanft plätschern kleine Wellen ans Ufer und rollen schon nach ein paar Zentimetern am schmalen, lehmigen Strand aus. Blicke gleiten über den stillen See. Die Sonne ist gerade untergegangen, macht dem Mond für
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